Wie viel langsamer sind Busse und Trams wegen Tempo 30? Die Stadt Zürich legt konkrete Daten vor

Gilt bald auf allen Zürcher Strassen Tempo 30? Bild: Patrick Federi / Unsplash

Tempo 30 bremst den öffentlichen Verkehr aus und mindert seine Attraktivität wegen längerer Reisezeiten: Diese Befürchtung äussern Branchenvertreter seit Wochen. Doch stimmt sie auch? Die Stadt Zürich legt nun konkrete Daten von Vorher-Nachher-Messungen vor.

von Stefan Ehrbar
17. August 2021

Die Signalisierung von Tempo 30 statt Tempo 50 ist eines der ganz heissen Eisen der Verkehrspolitik. Nachdem Städte wie Zürich und Winterthur bekanntgegeben haben, künftig flächendeckend auf die tiefere Geschwindigkeit zu setzen, werden Befürchtungen laut, dass dies dem öffentlichen Verkehr schaden könne. «Es ist klar, dass der öffentliche Verkehr mit generell Tempo 30 auf den Hauptachsen der Städte unattraktiver wird», sagte Ueli Stückelberger, der Direktor des Verband öffentlicher Verkehr (VöV), zu CH Media. Werde der ÖV langsamer, nutzten ihn die Leute weniger. Mitte-Nationalrat und Verkehrspolitiker Martin Candinas sagte: «Leider machen sich die rot-grün regierten Städte daran, den öffentlichen Verkehr zu Gunsten der Mofas oder Velos zu schwächen» (zum Mobimag-Interview mit Martin Candinas).

Tatsächlich rechnen auch die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) mit Mehrkosten, sollte Tempo 30 umgesetzt werden. Da der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) diese nicht bezahlen möchte, würde das mit einem Angebotsabbau einhergehen – wenn nicht die Stadt einspringt. Die VBZ dachten bereits über die Einstellung einer Buslinie nach (Mobimag berichtete). Denn wenn Busse und Trams langsamer fahren können, brauchen die ÖV-Unternehmen mehr Fahrpersonal und zusätzliche Fahrzeuge, um die selben Strecken im selben Takt bedienen zu können.

Andererseits argumentieren städtische Politiker, dass der Lärmschutz eine gesetzliche Aufgabe und Tempo 30 ein effektives Mittel dafür ist. Zudem würden auch Mehrausgaben, die dem ÖV etwa wegen Staus entstehen, bezahlt – und Tempo 30 verflüssige den Verkehr. Nur in seltenen Fällen komme es zu einer Kapazitätsminderung, sagte der SP-Kantonsrat Felix Hoesch im Mobimag-Interview.

Doch welche Auswirkungen hat Tempo 30 ganz konkret auf den ÖV? Die Stadt Zürich hat diese Antwort vor einiger Zeit gegeben, zumindest mit Blick auf den Lärmschutz. Das Fazit ist eindeutig: Tempo 30 wirkt. Die Lärmbelastung sinkt damit deutlich. Messungen, welche die Stadt Zürich in Auftrag gab, zeigten eine Lärmreduktion in der Nacht zwischen -1,6 Dezibel und -2,6 Dezibel auf Strecken, auf denen Tempo 30 eingeführt wurde. Bereits ab einem Dezibel sind Lärmreduktionen wahrnehmbar.

Nun gibt die Stadt Zürich auch eine Antwort auf die Frage, wie viel Zeit der öffentliche Verkehr wegen Tempo 30 verliert. Es ist nicht wenig.

Gemessen wurde die Zeit, die der Bus der Linie 40 zu verschiedenen Tageszeiten verliert, weil auf der Seebacherstrasse im Juli 2019 Tempo 30 eingeführt wurde. 

Die Vorher-Messungen fanden im April und Mai 2017 statt, die Nachher-Messungen im September 2020. In der Hauptverkehrszeit am Morgen und am Abend (zwischen 7 und 8 Uhr und zwischen 17 und 18 Uhr) verlor der Bus jeweils 25 Sekunden wegen Tempo 30. 

Dabei handelt es sich um eine Strecke mit der Länge von ca. 1,9 Kilometern. Laut Fahrplan benötigt der Bus derzeit inklusive der Zwischenhalte vier Minuten für die Strecke, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 28,5 Kilometern pro Stunde entspricht. Bei einer Verlustzeit von 25 Sekunden war der Bus demnach zuvor mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 31,8 Kilometern pro Stunde unterwegs. In der Spitzenstunde entspricht die prognostizierte Verlustzeit wegen Tempo 30 einer Fahrzeitverlängerung von etwa 15 Prozent. Dabei handelt es sich nicht um präzise Werte, sondern Annäherungen – und diese Rechnung gilt nur für die Stosszeiten. Tagsüber und abends ist die Verlustzeit deutlich tiefer.

Weitere Messungen fanden auf einem 1,8 Kilometer langen Abschnitt auf der Strecke der Buslinie 46 in Zürich-Wipkingen statt, welcher zwischen 2017 und 2019 umsignalisiert wurde.

Abends zwischen 17 und 18 Uhr verloren die Busse wegen Tempo 30 durchschnittlich 44 Sekunden bei der Fahrt in Lastrichtung Rütihof vom Hauptbahnhof weg. In der Spitzenzeit beträgt die Fahrzeit laut dem Fahrplan vier Minuten. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 27 Kilometern pro Stunde. Zuvor hatte die Geschwindigkeit demnach 33,1 Kilometer pro Stunde betragen. Durch Tempo 30 hat sich die Fahrzeit in der Spitzenstunde also um etwa 22 Prozent verlängert.

Die folgende Tabelle zeigt die gemessenen Fahrzeiten und die Abweichung zu den prognostizierten Fahrzeitverlusten nach der Einführung von Tempo 30 auf der Nord- und Rousseaustrasse an.

RichtungZeitPrognose Verlust (s)Effektiver Verlust (s)
Bahnhofquai/HB7.00-8.001522 (+7)
Bahnhofquai/HB 9.00-16.001919 (+0)
Bahnhofquai/HB 17.00-18.001522 (+7)
Bahnhofquai/HB 21.00-23.001917 (-2)
Rütihof 7.00-8.00 2334 (+11)
Rütihof 9.00-16.00 2830 (+2)
Rütihof 17.00-18.00 2344 (+21)
Rütihof 21.00-23.00 2837 (+9)
Vorhermessung: April/Mai 2017, Nachhermessung: September 2020

Allerdings sind das lediglich Näherungen – und solche, die mit Vorsicht zu geniessen sind. Ausserhalb der Stosszeiten waren die gemessenen Verlustzeiten deutlich tiefer. Ein Teil des Zeitverlustes könnte denn auch nicht auf Tempo 30, sondern andere Faktoren zurückzuführen sein – etwa vermehrten Stau. Dazu passt, dass zwischen der Vor- und der Nachhermessung drei Jahre liegen. Die Nachhermessung fand zudem im September 2020 statt, als das Verkehrsaufkommen wegen der Pandemie tiefer gewesen sein dürfte als im Vorkrisenzustand und dementsprechend auch weniger Stau geherrscht haben dürfte. Bei einem grossen Teil der betroffenen Strecke handelt es sich zwar um eine Einbahn, die kaum je von Stau betroffen ist. Beim Bahnhof Wipkingen mündet diese aber in eine stärker befahrene Strasse, wo das Einfädeln des Busses bei dichtem Verkehr durchaus mehr Zeit in Anspruch nehmen kann.

Die Stadt Zürich rechnet nach wie vor mit Mehrkosten von 20,1 Millionen Franken pro Jahr, die mit flächendeckendem Tempo 30 zusätzlich an Betriebskosten anfallen würden. Hinzu kämen Investitionskosten für neue Fahrzeuge in der Höhe von 75 Millionen Franken.

Diese Mehrkosten resultierten aus einer Berechnung der Zusatzkosten aller Abschnitte mit ÖV-Linien, die eine Lärm-Grenzwertüberschreitung aufweisen und wo zum Zeitpunkt 2019 noch kein Tempo 30 signalisiert war.

Die tatsächlichen Zeitverluste könnten noch höher sein, schreibt die Stadt. «Die für die Berechnung verwendeten, streckenunabhängigen Werte für die Mediangeschwindigkeiten bei signalisiertem Tempo 30 liegen bei 27 km/h (Bus) bzw. 29 km/h (Tram). Diese verwendeten Werte liegen nahe an der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h, was zeigt, dass die Berechnung der Zeitverluste auf der Annahme beruht, dass auf den Strecken mit Temporeduktionen die neu festgelegte Höchstgeschwindigkeit tatsächlich weitgehend erreicht werden kann. Falls dies nicht der Fall ist (etwa aufgrund von weiteren Verlangsamungsmassnahmen wie Versätzen oder Fahrbahnverengungen), wären die Zeitverluste gar noch höher, als diese Berechnungen vermuten lassen. Falls bei der Einführung von Tempo 30 ausserdem die Vortrittsregelungen angepasst würden, sodass bestehende Vortrittsregelungen von ÖV-Achsen wegfielen, resultierten weitere Verzögerungen», schreibt die Stadt.

Heutige Geschwindigkeiten der Tramlinie 13 und prognostizierte Tempi bei Signalisierung von Tempo 30.

Dass Tempo 30 das grösste Problem des ÖV ist, erschliesst sich aus der Antwort allerdings nicht – im Gegenteil. Denn Behinderungen durch den motorisierten Individualverkehr und Eigenbehinderungen kosten den ÖV schon heute mehr, als es Tempo 30 selbst bei grossflächiger Einführung je dürfte. Die Stadt beziffert die Mehrkosten mit 21,5 Millionen Franken jährlich für den Betrieb und 138 Millionen Franken an zusätzlichen Investitionskosten.

Die vollständige Antwort des Zürcher Stadtrats findet sich hier.

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