Städte setzen immer häufiger auf die Temporeduktion. Davon profitiert der öffentliche Verkehr nicht – im Gegenteil. In Zürich und Winterthur drohen jetzt Taktausdünnungen, Fahrzeitverlängerungen und die Einstellung einer Buslinie. Wird Tempo 30 zur Gefahr für den ÖV? Eine Studie aus Bern widerspricht.
von Stefan Ehrbar
9. März 2021
Am Montag veröffentlichte der Zürcher Verkehrsverbund seinen neuen Fahrplan für die Jahre 2022 und 2023 – und damit schlechte Nachrichten. Denn wegen der Einführung von Tempo 30 sieht er folgende Angebotsreduktionen vor:
- In Winterthur soll der Bus der Linie 10 künftig zwischen 15.45 und 19.20 Uhr nicht mehr im 10-Minuten-Takt fahren, sondern nur noch alle 15 Minuten.
- In Zürich verlängern sich die Fahrzeiten des Tram 13. Das gleiche gilt für den Bus der Linie 46.
- Auf der Buslinie 46 soll der Takt reduziert werden. Am Sonntag soll die Linie erst ab 13 Uhr statt wie bisher ab 10 Uhr im 10-Minuten-Takt fahren. Stattdessen soll bis nach dem Mittag der 15-Minuten-Takt gelten.
- Die Buslinie 38 soll eingestellt werden.
All diese Massnahmen stehen «unter dem Vorbehalt, dass bis zum Fahrplanwechsel keine alternative Finanzierungsmöglichkeit gefunden wird». Doch wie konnte es soweit kommen – und droht das auch anderen Städten?
Tempo 30 führt zu Mehrkosten im öffentlichen Verkehr. Wenn Busse und Trams länger für eine Strecke benötigen, kann ein zusätzliches Fahrzeug nötig werden, um den Takt aufrechtzuerhalten. Damit wird aber auch zusätzliches Personal benötigt.
In Zürich rechnen die Verkehrsbetriebe (VBZ) mit Mehrkosten von 900’000 Franken pro Jahr, die mit der Einführung von Tempo 30 auf Abschnitten des Tram 13 und Bus 46 entstehen. Davon werden 560’000 Franken für den Bus 46 verrechnet. Dort wird auf etwa 1,7 Kilometern Länge Tempo 30 eingeführt. Damit entstünden Mehrkosten von 330 Franken pro Meter und Jahr.
Und das sei erst der Anfang, warnen die VBZ. Mit einer flächendeckenden Einführung von Tempo 30 auf dem ganzen Stadtgebiet entstünden Mehrkosten von 20 Millionen Franken pro Jahr, sagte VBZ-Direktor Guido Schoch in einer Sitzung Ende November. Hinzu kämen 75 Millionen Franken Investitionen in neue Fahrzeuge. «Relative kleine Fahrzeitverlängerungen haben gewichtige finanzielle Auswirkungen», sagte Schoch.
Brauche ein Bus für eine Strecke nur schon 30 oder 40 Sekunden mehr, könne dies bereits einen zusätzlichen Kurs auslösen. Damit benötige man jährlich sechs zusätzliche Fahrer, was Personalkosten von über 600’000 Franken auslöse, so Schoch. Ohne Streichungen im Angebot gehe es darum nicht, wenn Tempo 30 eingeführt werde. «Die Zitrone ist ausgepresst.»
Die VBZ sprachen sich deswegen gegen die Einführung von Tempo 30 aus. Sollte es auf den beiden Abschnitten des Tram 13 und Bus 46 aber eingeführt werden, «wäre die Einstellung der Linie 38 die naheliegendste Lösung», sagte der Leiter der Marktentwicklung, Thomas Hablützel, an der Sitzung. Diese Linie wird zwar nicht von vielen Menschen genützt, bedient aber einen steilen Abschnitt in Zürich-Höngg, das Stadtspital Waid und einen Friedhof. Gerade für ältere Menschen ist sie deshalb wichtig. Und das wären noch Peanuts im Vergleich zu den Folgen von flächendeckendem Tempo 30, pflichtete Schoch bei. «Auf grösseren Linien gäbe es gravierende Folgen.»
Nur: Das Bundesgesetz zwingt Städte zu Lärmschutzmassnahmen. Alleine in Zürich wohnen 140’000 Menschen an Strassen, an denen die Lärm-Grenzwerte überschritten werden. Das Bundesamt für Umwelt stützt die Signalisation von Tempo 30: «Führt Strassenlärm zur Überschreitung der Grenzwerte, ist die Reduktion der Geschwindigkeit eine mögliche Massnahme», schreibt die Behörde. «Eine Reduktion der Geschwindigkeit ist eine wirksame Massnahme, um Strassenlärm deutlich zu vermindern.» Tempo 30 statt Tempo 50 reduziere die Lärmemissionen um rund drei Dezibel. Das entspreche einer Halbierung des Verkehrs.
Diese Werte sind möglicherweise etwas hoch gegriffen. Messungen, welche die Stadt Zürich in Auftrag gab, zeigten eine Lärmreduktion in der Nacht zwischen -1,6 Dezibel und -2,6 Dezibel auf Strecken, auf denen Tempo 30 eingeführt wurde. Doch selbst diese Reduktionen stellen eine Verbesserung für Anwohner dar. Bereits ab einem Dezibel sind Lärmreduktionen wahrnehmbar.
Doch wenn Tempo 30 eine gesetzliche Aufgabe ist, warum übernimmt die öffentliche Hand dann nicht die Mehrkosten? In Zürich finanziert der dem Kanton unterstellte Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) den öffentlichen Verkehr. Die Verkehrsbetriebe müssen vereinfacht gesagt die Einnahmen abliefern und erhalten dafür ihre Ausgaben gedeckt. Der ZVV stellt sich nun auf den Standpunkt, dass er Mehrausgaben durch Tempo 30 nicht finanzieren muss und kann.
Zwar änderte der Kantonsrat die ZVV-Strategie letztes Jahr dahingehend, dass Tempo 30 auch im ÖV möglich sein sollte. Doch das heisse nicht, dass der ZVV diese Mehrkosten übernehmen müsse, sagte ein Vertreter des ZVV in besagter Sitzung. Denn in der Strategie des ZVV steht auch, dass er das Anliegen einer attraktiven Reisezeit verfolgen muss. Sowieso stünden für den ganzen Kanton für den kommenden Fahrplan nur 7 Millionen Franken für Angebotsverbesserungen zur Verfügung. Mehrkosten von 20 Millionen Franken, wie sie alleine die VBZ für die Stadt Zürich veranschlagen, könnten so nicht gestemmt werden.
Nun könnte in Zürich die Stadt in die Bresche springen. Im ersten Quartal will der Stadtrat entscheiden, ob er die finanziellen Folgen von Tempo 30 für die VBZ tragen kann und will. Möglich wäre das auch in Winterthur. Dort rechnet Stadtrat Stefan Fritschi ebenfalls mit «Kostensprüngen» beim öffentlichen Verkehr, wenn Tempo 30 eingeführt würde. Es müssten zusätzliche Busse und Chauffeure bereitgestellt werden, sagte er dem «Forum Winterthur».
Die Einführung von Tempo 30, argumentierte der Regierungsrat, «würde zur Verschlechterung der Qualität des öffentlichen Verkehrs führen». Die Buslinie 30, welche die Strasse befahre, weise schon heute relativ häufig Verspätungen auf. «Die Fahrzeiten des öffentlichen Verkehrs sollen wo immer möglich kürzer und damit attraktiver werden, damit mehr Fahrgäste Tram und Bus benutzen. Tempo 30 in der ganzen Erlenstrasse würde die Fahrzeit der Buslinie 30 verlängern. Eine Kompensation des Zeitverlusts entlang der Linie wäre kaum möglich», heisst es in der schriftlichen Antwort.
Das Problem ist nicht auf den Kanton Zürich beschränkt. In Basel sprach sich der Regierungsrat im Oktober 2020 gegen die Signalisierung von Tempo 30 auf der 500 Meter langen Erlenstrasse zwischen dem Musical Theater und der Schwarzwaldallee aus. Geprüft werden könne dies allenfalls auf einem kurzen Teilabschnitt.
Gegenüber CH Media sagte eine Sprecherin des Kantons Basel-Stadt allerdings, der Entscheid gegen Tempo 30 habe nichts mit der Fahrzeitverlängerung zu tun. Vielmehr handle es sich um eine «verkehrsorientierte Strasse», auf denen nur in Ausnahmefällen Tempo 30 eingeführt werde. Führe die Stadt Tempo 30 ein und bremse dadurch den ÖV aus, setze sie wo immer möglich Kompensationsmassnahmen um – etwa eine bessere Bevorzugung des ÖV an Ampeln. «Der ÖV ist in unserer dicht bebauten Stadt das Rückgrat der Mobilität», sagte die Sprecherin. «Bei Abwägungen zu Tempo 30 kommt ihm ein hoher Stellenwert zu.»
Doch stimmt es überhaupt, dass Tempo 30 den ÖV ausbremst? Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Das zeigt eine Antwort der Berner Stadtregierung. Sie will auf mehreren Strassen Tempo 30 einführen. Sie zitiert in einer Antwort auf eine Anfrage aus dem Berner Stadtrat aus einer Studie des deutschen Umweltbundesamt vom November 2016. Demnach habe eine Senkung der Höchstgeschwindigkeit in den meisten Fällen keinen nennenswerten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit einer Hauptverkehrsstrasse.
«Die Funktion einer innerstädtischen Hauptverkehrsstrasse für den Autoverkehr wird durch Tempo 30 nicht oder nicht nennenswert beeinträchtigt», so der Berner Gemeinderat. Das gelte auch für die Fahrzeiten. Eine Erfolgskontrolle nach Einführung von Tempo 30 im Zentrum von Köniz habe ergeben, dass die Durchfahrtszeit von vorher 2,5 Minuten auf 2 Minuten reduziert worden sei. Temporeduktionen würden «nach Auffassung der Fachkreise auch auf Hauptstrassen die Kapazität nicht reduzieren, sondern tendenziell sogar erhöhen», schreibt der Berner Gemeinderat in einer anderen Antwort aus dem Sommer 2019. Allerdings will nun auch Bern ein Monitoring für Strecken aufziehen, auf denen Tempo 30 eingeführt wird. Das Ziel der Berner ist, dass Tempo 30 keine Mehrkosten beim ÖV auslöst.
Dass Tempo 30 zwingend zu einer Verlangsamung führt, bezweifeln auch Quartiervertreter in Zürich. Einer von ihnen wollte in der Sitzung Ende November vom zuständigen Stadtrat Michael Baumer wissen, ob diese nicht durch eine gezielte Verkehrssteuerung verhindert werden könne. Der verneinte: «Könnte die Verlangsamung mit einer besseren Steuerung aufgefangen werden, böten die VBZ heute schon Hand zu Tempo 30. » Nun müsse geprüft werden, ob der Verkehr auf andere Achsen geleitet werden könne.
Der Zürcher GLP-Politiker und Gemeinderat Sven Sobernheim gibt gegenüber Mobimag allerdings einen weiteren Punkt zu bedenken, der in der Diskussion bisher nicht aufgenommen wurde. «Wir geben jedes Jahr einen zweistelligen Millionenbeitrag für «Stabilisierungsmassnahmen» aus», sagt er. De facto heisse das, «dass wir den ÖV finanziell stützen müssen, weil dieser durch den motorisierten Individualverkehr blockiert wird.» Diese Gelder hinterfrage auch niemand – «obwohl sie auch von unseren Geldern für den Ausbau abgezogen werden». Auf die Frage, ob man Tempo 30 wegen Auswirkungen auf den ÖV überdenken müsse, hat Sobernheim deshalb eine kurze Antwort bereit: «Nein».
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