Trotz Velobegeisterung: Niederlande sind in Sachen Verkehr kein Vorbild für Schweizer Städte

Die Veloinfrastruktur ist in Amsterdam vorbildlich. Bild: Frank Holleman / Unsplash


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Die hiesige Velolobby schielt neidisch auf Städte wie Amsterdam. Doch während die Niederlande in Sachen Veloförderung vieles richtig machen, ist ihr Verkehrsmix insgesamt schlecht. Schweizer Städte sollten sich daran kein Vorbild nehmen – und sich genau überlegen, ob sie den ÖV behindern wollen.

von Stefan Ehrbar
25. Oktober 2022

Hinweis (26. Oktober): In einer ersten Fassung dieses Artikels wurden falsche respektive ungenaue Daten für Amsterdam verwendet, die nach einem Hinweis der Genossenschaft POSMO Schweiz korrigiert wurden.

«Wieso in den Niederlanden so viel mehr Menschen jeden Alters, Geschlechts, jeder Schicht Velo fahren als in der Schweiz, Österreich und Deutschland? It’s the “I feel safe” bike infrastructure!», schrieb die Genossenschaft Posmo Schweiz vor kurzem auf Twitter. Sie hat recht: In Amsterdam, Utrecht oder Rotterdam sind Velowege breit, durchgehend und sicher und das Zweirad ist aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken.


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Ganz anders in Schweizer Städten: Hier enden Velowege noch immer oft mitten auf der Strasse, baulich nicht abgetrennte Wege werden mit Farbe zu Velowegen umdeklariert und der Ausbau der Infrastruktur kommt nur schleppend voran. Der Nachholbedarf ist gross. 


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Dass mit einer sicheren Infrastruktur automatisch auch mehr Menschen das Velo als Verkehrsmittel nutzen – ein gesundes, platzsparendes und umweltfreundliches Verkehrsmittel – ist mittlerweile unumstritten. Und doch irrt, wer niederländische Städte als Vorbild für die Schweiz darstellt. 

Denn insgesamt ist der Verkehrsmittel-Mix hierzulande viel umweltfreundlicher – und in den Niederlanden geht die Entwicklung zum Teil in die falsche Richtung. Das zeigen aktuelle Daten.

Denn in den beiden grössten niederländischen Städten Amsterdam und Rotterdam wird zwar viel mehr Velo gefahren als hierzulande – aber umgekehrt hat der ÖV hat viel tiefere Marktanteile. Dasselbe gilt für das zu Fuss gehen, während auf der anderen Seite der Autoverkehr einen höheren Anteil am Modal Split hat als hierzulande.

Die aktuellsten Prozentanteile an zurückgelegten Wegen auf dem Stadtgebiet von niederländischen und Schweizer Städten finden sich in folgender Tabelle. Fett hervorgehoben ist das Verkehrsmittel mit dem jeweils höchsten Anteil. Berücksichtigt sind Wege, die von, nach und innerhalb der Städte stattfinden, aber keine reinen Transit-Wege.

VerkehrsmittelAmsterdamRotterdam*UtrechtZürichBaselBern
Velo28%23%29%8%12%9%
ÖV25%10%20%41%32%38%
zu Fuss16%21%13%26%24%23%
Auto (MIV)29%43%36%25%30%30%
Übrige2%3%3%0%2%1%
QuelleODIN 2018Deloitte 2021CBS 2021Städteverb. 2019s. ZHs. ZH
*Metropolregion Rotterdam-Den Haag

Die Zahlen sind nicht direkt vergleichbar, weil sie sich auf andere Zeiträume beziehen. Verwendet wurden die jeweils aktuellsten verfügbaren Daten.

Bei einem genauen Blick auf die Daten fällt auf:

  • Der ÖV-Anteil ist in Schweizer Städten viel höher als in den niederländischen – in Zürich beispielsweise 4mal so hoch wie in Rotterdam und fast 2mal so hoch wie in Amsterdam.
  • Viel mehr Personen sind in Schweizer Städten zu Fuss unterwegs – in Zürich beispielsweise etwa 1,5 mal mehr als in Amsterdam. 
  • Der Anteil des Autos an den Wegen ist in Rotterdam und Utrecht mit 43 respektive 36 Prozent deutlich höher als in der Schweiz. In Zürich betrug dieser Wert zuletzt 25%, in Bern und Basel 30 Prozent. Trotz ihrer Velofreundlichkeit ist das Auto sowohl in Amsterdam als auch in Rotterdam und Utrecht das meistgenutzte Verkehrsmittel.

Die Niederlande sind aber auch noch aus einem anderen Grund kein grosses Vorbild: Das Auto ist ungebrochen beliebt, während die Eisenbahn zu kämpfen hat.

Im Jahr 2014 betrug der Anteil der Eisenbahn an den zurückgelegten Kilometern gemäss dem Europäischen Statistikamt ohne Berücksichtigung des Fuss- und Veloverkehrs 11,8 Prozent. Bis ins Jahr 2019 sank er auf 11,2 Prozent. Im Jahr 2020 war er mit 7,8 Prozent noch einmal deutlich tiefer. Das ist aber auf die Coronakrise zurückzuführen, die in allen europäischen Ländern einen Einbruch der ÖV-Nutzung zur Folge hatte.

Der Anteil des Autos hingegen blieb stabil: Im Jahr 2014 waren es 85,5 Prozent, im Jahr 2019 85,6 Prozent. In der Schweiz hingegen sank dessen Anteil in derselben Zeitperiode von 74,6 Prozent auf 73,9 Prozent leicht, während der Anteil der Bahn von 19,6 auf 20,4 Prozent zunahm.

Die Niederlande sind also in Sachen Verkehrspolitik nur gerade für ein Verkehrsmittel – das Velo – vorbildlich. In Sachen Fussgänger, ÖV- und Autoverkehr machen die Schweiz und ihre Städte einen besseren Job. Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze:

  • Das Velo wird in den Niederlanden zwar stark gefördert, der öffentliche Verkehr aber nicht im selben Mass. So sind zum Beispiel die Taktfolgen der Strassenbahnen in Amsterdam keineswegs eindrücklich für eine Stadt mit knapp einer Million Einwohnern. In Rotterdam ist der ÖV deutlich schlechter ausgebaut als in den grösseren Schweizer Städten.
  • Es existiert möglicherweise ein Konflikt zwischen der Förderung des Velos und des Fussverkehrs: Wer erstmals nach Amsterdam kommt, wird als Fussgänger das eine oder andere entnervte Klingen von Velofahrern auslösen. Die Velowege sind zwar für Velofahrer sehr gut, aber eben nicht für zu Fuss Gehende – und der Strassenraum ist auch in den Niederlanden nicht unendlich gross. Das kann zum Teil zu einer Abwägung führen, die zugunsten des Velo ausfällt. Natürlich spielt hier auch eine Rolle, dass Amsterdam und Rotterdam grösser sind als die grössten Schweizer Städte und viele Wege gar nicht sinnvoll zu Fuss zurückgelegt werden können.
  • Angesichts des relativ schwachen ÖV könnten viele, die etwa aufgrund ihres Alters, ihrer körperlichen und mentalen Verfassung oder schlicht aufgrund der eigenen Bequemlichkeit nicht Velo fahren möchten, in den Niederlanden aufs Auto zurückgreifen.
  • Der ÖV in den Niederlanden wird zwar – unter anderem dank den dichten Takten der Bahn zwischen den Grossstädten – häufig als Vorbild genannt. Doch das System hat auch gewichtige Nachteile: Es ist etwa nicht frei zugänglich, sondern die Bahnhöfe sind mit Schranken abgesperrt und das Ticketing ist relativ kompliziert. Selbst in Amsterdam müssen für Züge der NS und der lokalen Verkehrsbetriebe unterschiedliche Billette gelöst werden. Zudem sind viele Bahnhöfe nicht hindernisfrei zugänglich und das eingesetzte Rollmaterial oft alt und wenig komfortabel. Die Shuttle-Züge zwischen Amsterdam und Rotterdam beispielsweise würden hierzulande maximal in einem Fussball-Extrazug zum Einsatz kommen.

Doch was bedeutet dies für Schweizer Städte und ihre Verkehrspolitik? Sie sollten sich im Wesentlichen einiger Punkte bewusst sein, nämlich:

  • Eine gute Veloinfrastruktur führt dazu, dass viel Velo gefahren wird. Diese muss vom restlichen Strassenraum abgetrennt, durchgängig und breit sein.
  • Der öffentliche Verkehr ist in den Städten hierzulande auch im internationalen Vergleich extrem beliebt (Mobimag berichtete). Genauso wie die Velobegeisterung der Niederländer kein Naturgesetz ist, sondern mit der Infrastruktur kam, gilt das auch für den ÖV. Wird er hingegen weniger attraktiv, schlägt sich das negativ auf den Marktanteil durch – und zwar nicht automatisch zugunsten des Velos, sondern möglicherweise auch zugunsten des Autoverkehrs.
  • Schweizer Städte machen für Fussgänger vieles richtig. Ihnen Platz wegzunehmen oder gemischte Zonen mit Velo- und Autoverkehr einzuführen, gefährdet die hohen Anteile des Fussverkehrs am Verkehr. In Sachen Platzeffizienz und externe Kosten ist dieser aber die mit Abstand sinnvollste Fortbewegungsart (Mobimag berichtete).
  • In Einzelfällen kann es zu einer Abwägung «Velo oder ÖV» kommen, die zwar auch einmal zuungunsten des ÖV ausfallen kann. In der Summe sollte dieser aber nicht unattraktiver werden, schliesslich ist er in Sachen externe Kosten nach dem Fussverkehr die für die Gesellschaft günstigste Fortbewegungsart. Analog des Veloverkehrs sollte dies heissen, dass auch der ÖV wo immer möglich eigene Spuren haben sollte. Ideen wie etwa jene der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ), unabhängige Bahnkörper und neue Tramtunnels zu bauen, sind deshalb zu begrüssen.


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