«Es ist offensichtlich, dass das Auto in der Stadt wesensfremd ist», schreibt Benedikt Weibel

Braucht es hier das Auto? Nicht unbedingt, findet Benedikt Weibel. Bild: Guilian Fremaux / Unsplash

Was ist wesensgerechter Verkehr? Warum können Grossanlässe ohne den Schienen- und Fussverkehr gar nicht mehr durchgeführt werden – und warum verwirrt der Begriff «Langsamverkehr» die Österreicher? In seinem neuen Buch gibt Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel eine Antwort darauf. Mobimag druckt ein Kapitel exklusiv ab.


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von Benedikt Weibel
4. Oktober 2021


Beim vorliegenden Text handelt es sich um einen Abdruck eines Kapitels des Buchs «Wir Mobilitätsmenschen – Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr» von Benedikt Weibel. Es ist am 6. September 2021 bei NZZ Libro (Schwabe Verlagsgruppe, Basel) erschienen. Das Buch kostet 34 Franken und kann hier bestellt werden.


Als ich Ende der 1970er-Jahre zur Bahn stieß, fiel mir die fast mantrahafte Verwendung des Begriffs «wesensgerechter Verkehr» auf. Angesichts der Defensive, in der sich die Bahn damals befand, war das wie eine Art Pfeifen im dunklen Wald. Auf der Suche nach dem Ursprung des Begriffs wurde ich in einer Vorlage des Eidgenössischen Energie- und Verkehrsdepartements vom 1. August 1973 über das weitere Vorgehen im Alpentransit fündig. Dort steht in Artikel 22 Folgendes:


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«Das optimale Verkehrskonzept ergibt sich nur durch eine Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Verkehrsträgern, die deren spezifischen Vorteile ausnützt. … Der Transport ist wesensgerecht und deshalb wirtschaftlich.»

Für den Ferngütertransport, heißt es dort, sei eindeutig die Bahn das geeignete Mittel. So benötige man für den Transport von 1000 Tonnen mit der Bahn einen Mann, beim Straßentransport 100 Männer. Das Kriterium «wesensgerecht» generiert denn auch eine simple Erfolgsformel für den Bahn-Güterverkehr: Masse und und Distanz. Wenn man den Begriff heute in die Suchmaschine eingibt, fällt auf, dass sich seine Verwendung auf die Schweiz beschränkt. Dort findet er sich in allerlei verkehrspolitischen Papieren jeglicher politischer Provenienz. «Eine Umkehr zum wesensgerechten Verehr tut Not», erklärt ein Lobbyist für den Straßentransport, wobei er den seines Erachtens nicht wesensgerechten Verkehr der Bahn anvisiert. Der Automobil Club der Schweiz (ACS), Sektion Zürich, erklärt in seinen Leitlinien:


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«Der öffentliche und private Verkehr sind wesensgerecht einzusetzen, was bedeutet, dass der Verkehr in der Fläche vorwiegend auf der Strasse und der Massenverkehr in und zwischen städtischen Agglomerationen sowie der Massengüterverkehr über längere Strecken vorwiegend auf der Schiene abgewickelt werden.»

Lange wurde der Begriff ausschließlich im Zusammenhang mit dem Automobil- bzw. Bahnverkehr benutzt. In neuerer Zeit sind Verkehrsformen in den Fokus gerückt, die man vorher negiert hat: der Fahrrad- und Fußverkehr. Dabei erlebt der Radverkehr eine ähnliche U-Kurve wie die Straßenbahn. Der Fußverkehr wurde jahrzehntelang als verkehrspolitisch irrelevant betrachtet. Mit der Erarbeitung von Verkehrskonzepten für Großanlässe hat er jedoch Beachtung erlangt. Dort zeigt sich, dass der wesensgerechte Verkehr aus einer Kombination von Schienen- und Fußverkehr besteht und Großevents ohne Konzentration auf den wesensgerechten Verkehr gar nicht mehr zu bewältigen sind. Dabei hat man gelernt, dass die Bahnstation nicht zu nahe am Event liegen sollte, um einen optimalen Durchsatz für den Fußverkehr
zu erreichen. Mittlerweile haben sich diese Fußmärsche hier und dort sogar als Teil des Events etabliert.


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In der Schweiz hat sich für die Summe von Rad- und Fußverkehr der etwas verwirrende und unpräzise Begriff «Langsamverkehr» eingebürgert. In der Projektorganisation für die Fußball-Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz sorgte das für Missverständnisse, bis unsere österreichischen Kollegen begriffen, dass wir unter Langsamverkehr nicht den stockenden Kolonnenverkehr auf der Straße verstanden. In einem regionalen Verkehrskonzept (aus der Schweiz) findet sich folgende Aussage:

«Die Massnahmenentwicklung orientiert sich am wesensgerechten Einsatz der Verkehrsmittel. Im dichten Siedlungsraum geniesst der Langsamverkehr eine hohe Priorität.»

Wenn wir uns an den Maßstab Durchsatz, Flächeneffizienz, Energieeffizienz und Emissionen halten, dann ist jener Verkehr wesensgerecht, der die vier Kriterien in einer bestimmten O-D-Beziehung mit einer vertretbaren Durchschnittsgeschwindigkeit am besten erfüllt.

Im Auftrag des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation hat die ETH Zürich 2011 einen Bericht mit dem Titel Einsatzbereiche verschiedener Verkehrsmittel in Agglomerationen erstellt. Die Arbeit gipfelt in einem Spinnendiagramm mit den neun Achsen: Flächenbedarf, Leistungsfähigkeit, Reisegeschwindigkeit, Zuverlässigkeit, Erschließungsqualität, Verkehrssicherheit, Umweltaspekte, Energieverbrauch, betriebswirtschaftliche Kosten. Bei sechs Kriterien schneidet der Langsamverkehr am besten ab, bei zweien der öffentliche Verkehr und nur bei einem Kriterium, der Reisegeschwindigkeit, der Privatverkehr.


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Es ist offensichtlich, dass das Auto in der Stadt «wesensfremd» ist, was ja auch aus den Leitlinien des ACS Sektion Zürich hervorgeht. Über die Hälfte aller Autoetappen sind kürzer als 10 Kilometer. Es mag gute Gründe für Kurzdistanzfahrten mit dem Auto geben, was aber einen derart hohen Anteil nicht rechtfertigt. Die gute Nachricht: Hier besteht ein großes und leicht umsetzbares Optimierungspotenzial. Der wesensgerechte Einsatz eines Verkehrsmittels kann durch technologische Entwicklungen verändert werden. Den größten Sprung machte in der jüngeren Vergangenheit das Fahrrad. Mit dem E-Bike wurden Reichweite und Geschwindigkeit in einer Weise verbessert, dass der PW im urbanen Verkehr seinen Vorteil sogar bei der Geschwindigkeit verloren hat.


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