Verpuffen Milliarden-Beträge im Bahnausbau? Das steckt hinter der Fundamentalkritik von Swissrailvolution und Co.

Die Bahn werde ohne Konzept ausgebaut, monieren Kritiker. Bild: SBB

Der Verkehr ist der grösste Klimasünder: Er ist für 32 Prozent der hiesigen CO2-Emissionen verantwortlich. Deshalb werden Milliarden vor allem in die Eisenbahn investiert. Doch deren Anteil am Verkehr stagniert. Das werde sich nicht bessern, warnen Fachleute, denn die Schweiz baue konzeptlos aus. Was ist dran an der Kritik?

von Stefan Ehrbar
7. August 2023

Fundamentale Kritik am Bahnausbau ist in der Schweiz selten. Nun wird dieser Gottesdienst der zuweilen selbstzufriedenen ÖV-Branche gestört, allen voran durch den Verein Swissrailvolution. In seinem Vorstand sitzt etwa der frühere Chef der Südostbahn und der Verkehrsbetriebe Zürich, Guido Schoch.

Grund für die Debatte: Der hiesige ÖV stagniert seit Jahren. Sein Anteil an den Kilometern, die in allen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden, ist so tief wie lange nicht mehr. Im Jahr 2015 wurden gemäss Zahlen des Bundes 24,4 Prozent der durchschnittlichen Tagesdistanz mit Zug, Bus oder Tram zurückgelegt. Im Jahr 2021 kamen Bahn, Bus und Tram nur noch auf 19,8 Prozent.

Dabei müsste der Anteil steigen – nicht zuletzt aus klimapolitischen Überlegungen. Zwischen 1990 und 2021 sanken die Emissionen des Verkehrs hierzulande nur gerade um 7 Prozent – viel zu wenig für das Ziel der Klimaneutralität bis 2050. Fachleute gehen davon aus, dass der Anteil des ÖV verdoppelt werden müsste, um dieses zu erreichen.

Der Grund für die tiefen 2021er-Zahlen liegt zwar auch an Einschränkungen, die im Coronajahr 2021 galten. Doch selbst die Branche erkennt Handlungsbedarf, etwa der Verband öffentlicher Verkehr (VöV). Er hat die Stagnation bereits 2019 eingestanden und 38 Massnahmen erarbeitet (Mobimag berichtete). 

Doch entscheiden wird der Bund. Und der glaubt, die Antwort zur Erhöhung des ÖV-Anteils in den Agglomerationen gefunden zu haben. Mit der letztes Jahr vorgestellten «Perspektive Bahn 2050» will der Bundesrat die Bahn vor allem auf kurzen und mittleren Distanzen stärken, etwa mit zusätzlichen S-Bahnen in Agglomerationen.

Das leuchtet ein: In Agglomerationen wohnen sehr viele Menschen in dichten Strukturen, der ÖV-Anteil ist hingegen oft tief. In der Stadt Zürich etwa wurden bei der letzten Erhebung des Kantons 32 Prozent der Wege mit dem ÖV zurückgelegt. Im angrenzenden Glattal waren es nur 12 Prozent.

Das wichtigste Argument: Für den Anteil des ÖV am Gesamtverkehr sind nicht die Anzahl der Wege entscheidend, sondern die Kilometer. Eine einzelne Reise von Zürich nach Frankfurt mit der Bahn statt dem Auto hat denselben Effekt, wie wenn 100 Menschen zwischen Bern und Ostermundigen umsteigen.

Die EU sieht den Hochgeschwindigkeitsverkehr als zentralen Pfeiler der Verkehrswende. Auch die SBB kommen in einer Studie zum Schluss, dass grosse Anteilsgewinne der Bahn nur so realisiert werden können. «Fahrzeitverkürzungen entfalten die grösste Wirkung», schreiben sie.

Im europaweiten Vergleich ist der Schweizer ÖV langsam. Wer von Zürich nach Bern fährt, ist laut Berechnungen von Guido Schoch zwar mit durchschnittlich 126 Kilometern pro Stunde unterwegs. «Aber niemand wohnt im Bahnhof», sagt er. Sobald Fahrten über die grossen Bahnhöfe hinaus gehen, seien die Reisezeiten wenig konkurrenzfähig. Auf der Strecke von Zürich–Altstetten nach Ittigen bei Bern etwa sinkt die Durchschnittsgeschwindigkeit auf 63 Kilometer pro Stunde. 

Dass kürzere Fahrzeiten Menschen in die Bahn locken, ist unbestritten. Die Inbetriebnahme der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Madrid und Barcelona führte dazu, dass der Marktanteil der Bahn von 8 auf 63 Prozent stieg. Nur ein Jahr nach der Einführung von ICE-Zügen, die in 4 Stunden von München nach Berlin fahren, konnte die Bahn ihren Anteil von 23 auf 46 Prozent steigern.

Doch neue Angebote generieren auch eine neue Nachfrage. Anders gesagt: Attraktive Reisezeiten führen zu mehr Reisen. Das wird «induzierter Verkehr» genannt. Swissrailvolution sieht dies nicht als Problem. Seit der Eröffnung des neuen Gotthard-Basistunnels seien die Passagierzahlen um 30 Prozent gestiegen, sagt Schoch. Davon seien laut Zahlen des Bundes 60 bis 80 Prozent vom Auto umgestiegen. Und: «Selbst wenn nur 25 Prozent Umsteiger wären, wäre die Klimabilanz noch positiv.»

Anders sieht das Peter Füglistaler, der Direktor des Bundesamt für Verkehr (BAV). «Es braucht nicht einzelne Hochgeschwindigkeitsstrecken, sondern viele Bahnhöfe, ein flächendeckendes Netz und einen dichten Fahrplan von früh bis spät», schrieb er im Frühling auf LinkedIn.

Tatsächlich ist der hiesige Modalsplit im europaweiten Vergleich hoch. Dass er trotz Milliardeninvestitionen stagniert, ist aber auch Tatsache. Und zum Teil wird der ÖV noch langsamer: «Le Temps» hat ausgerechnet, dass Reisende zwischen Genf und Bern im Jahr 2025 etwa 9 Minuten länger unterwegs sein werden als noch im Jahr 1982.

Laut Guido Schoch bringt auch der Ausbauschritt 2035, der Mitte bis Ende der 2030er-Jahre abgeschlossen sein soll und für den das Parlament 13 Milliarden Franken bewilligt hat, keine Besserung. Die Fahrzeit zwischen Basel und Genf werde danach 18 Minuten länger sein als vorher – und in vielen Bahnhöfen fielen gute Anschlüsse weg. Laut aktuellsten Planungen sollen laut Schoch zudem ICE- und TGV-Züge nur noch bis Basel fahren statt weiter in Richtung Zürich oder Bern. Gelder würden mit der Giesskanne verteilt, aber es fehle ein Konzept.

Wie geht es weiter? Ende Sommer will der Bundesrat die «Bahn 2050» konkretisieren. Einiges deutet darauf hin, dass er die Kritik aufgenommen hat und den Fernverkehr stärker einbindet. Ambitionierte Ziele – etwa die Verdoppelung des Modalsplit – hat der Bund aber schon vor Längerem kassiert. 

Dabei gäbe es Möglichkeiten. Die am schnellsten realisierbaren Massnahmen haben nichts mit Beton zu tun. Fachleute wissen: Verlagerung funktioniert nicht ohne «Pull»- und «Push»-Massnahmen – ohne «ziehen» und «drücken». Ein attraktiver ÖV ist ein Pull-Faktor. Doch wenn der Strassenverkehr in ähnlichem Ausmass gefördert wird wie der ÖV und bequemer bleibt, fehlt der «Push»-Faktor.

Diese Erkenntnis ist in der Politik noch nicht angelangt. Mobility Pricing steckt seit Jahren in einer Test-Schleife fest. Der Nationalrat hat gerade 5,3 Milliarden Franken für Ausbauten der Nationalstrassen gebilligt. Bundesrat Albert Rösti ist Verfechter des Sechsspur-Ausbaus der A1. Doch auch bei Strassen führen Ausbauten zu mehr Verkehr: Eine neue Fahrspur auf der A1 bei Zürich-Seebach führte zu einer Zunahme um 15 Prozent innert fünf Jahren – und damit zu einem Anteilsgewinn des Autos.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diesen Artikel kommentieren