Alles ist gut im öffentlichen Verkehr der Schweiz? Mitnichten. In fünf Punkten hat die Branche besonders viele Probleme: Im internationalen Verkehr, bei den Nachtzügen, den Betriebszeiten, dem Komfort und den Tarifen. Was schief läuft und wie es besser werden könnte, zeigt die neue Mobimag-Analyse.
von Stefan Ehrbar
5. Februar 2024
Im internationalen Vergleich ist die Schweiz das Schlaraffenland des öffentlichen Verkehrs. Das Angebot ist dicht und wird so häufig genutzt wie nirgends: Die Schweizer sind Europameister bei der Zahl der zurückgelegten Kilometer in der Eisenbahn. Die Züge, Busse und Trams sind sauber, sicher und pünktlich und erschliessen selbst die kleinsten Weiler.
Auch der Modalsplit, der Anteil des öffentlichen Verkehrs an den zurückgelegten Kilometern, ist hierzulande mit über 20 Prozent rekordverdächtig hoch. Der Ausbau der Infrastruktur ist dank dem Bahninfrastrukturfonds (BIF) über Jahrzehnte gesichert. Alle paar Jahre sind damit grosse Angebotsausbauten möglich.
Doch niemand wird besser vom Blick auf die Vergangenheit und bestehende Strukturen. Und besser werden muss der ÖV auch hierzulande: Der Modalsplit bewegt sich seit Jahren nicht mehr nach oben – auch unabhängig von der Coronakrise. Gleichzeitig ist er in Anbetracht des Klimawandels viel zu tief. Eine Verdoppelung, wie sie wohl nötig wäre, um die Klimaziele zu erreichen, scheint in weiter Ferne.
Der Ansatz, den vom Bundesamt für Verkehr (BAV) über die SBB bis zu den Kantonen als Besteller alle verfolgen, auch wenn sie sich in Detailfragen manchmal uneinig sind, beruht im Wesentlichen auf einem Ausbau des Angebots und Bereitstellung von mehr Kapazität. Das ist grundsätzlich richtig in einem kleinen Land wie der Schweiz.
Doch es gibt auch tiefer hängende Früchte, die gepflückt werden können – also Probleme, die der ÖV heute hat und die zwar relativ klein erscheinen mögen, aber die auch für verhältnismässig wenig Geld behoben werden können. Mobimag hat fünf solcher Punkte identifiziert und zeigt, was die Branche macht, um sie zu lösen – und welche Alternativen es geben würde.
Problem 1: Der Internationale Verkehr
Gerade einmal noch fünf Züge pro Tag fahren von Deutschland über Basel SBB hinaus in die Schweiz. Nach Bern verkehrt kein einziger EC oder ICE mehr aus Deutschland. Die Eurocity-Züge von Zürich nach München sind nach wie vor chronisch unzuverlässig – und in Richtung Frankreich wird gerade einmal all jenen etwas geboten, die nach Paris wollen. Einigermassen zufriedenstellend funktioniert es hingegen in Richtung Österreich und Italien, auch wenn das Angebot mehr Direktzüge über Mailand hinaus vertragen würde.
Am grössten sind die Probleme unbestreitbar in Richtung Deutschland. Dass in den letzten Monaten immer mehr Züge planmässig in Basel SBB gebrochen werden mussten, weil die Verspätungen zu gross sind – ein Brückenschaden in Frankfurt am Main hat die Situation laut sbb.ch nun noch einmal verschlimmert – daran kann die SBB nicht viel ändern. In Deutschland wird zwar gerade verhältnismässig viel in die Bahn investiert, aber das führt auch zu vielen Baustellen, die das Netz noch jahrelang belasten werden. Dass sich die Zuverlässigkeit schnell bessert, davon ist nicht auszugehen.
Der bald abtretende BAV-Direktor Peter Füglistaler will deshalb die internationalen Züge gleich alle in Basel SBB enden lassen (siehe Mobimag-Interview). Es wäre der Übergang von der Notmassnahme zum Dauerzustand. Doch Kapitulation kann keine Lösung sein: Gerade auf langen Strecken ist es wichtig, dass viele Menschen den Zug nehmen. Dort ist die Klimawirkung besonders wichtig. Direktzüge sind unbestritten komfortabler, besonders mit Kindern und Gepäck – und jeder Umstieg erhöht die Wahrscheinlichkeit zusätzlicher Verspätung.
Was also tun? Die SBB hat bereits reagiert, indem sie Ersatzzüge in Basel SBB vorhält und zum Teil die Pufferzeiten erhöhte. Das dürfte in den nächsten Jahren nicht reichen, um einen stabilen Betrieb zu erreichen. Das Problem besteht vor allem auch, weil die ICE- und EC-Züge aus Deutschland in den Schweizer Taktfahrplan eingebunden sind. Zumindest einzelne Züge mit hohem Nachfragepotenzial aus der Schweiz in Richtung Deutschland könnten künftig taktüberlagert geführt werden – und dann möglicherweise auch aus Zürich direkt in Richtung Badischer Bahnhof in Basel statt nach Basel SBB fahren, was zusätzlich Zeit sparen würde. Für alle Verbindungen wird das nicht funktionieren, dafür ist die Nachfrage zu klein. Zumindest vereinzelt wäre es aber prüfenswert. Auch Füglistaler hält dies für sinnvoll.
In Richtung Frankreich wiederum muss sich die Bahn überlegen, ob sie ein Angebot aufbauen will, das abseits der Firma TGV Lyria funktioniert. Dort ist die SBB mit einem Anteil von nur gerade 26 Prozent höchstens Juniorpartner der französischen SNCF – und die führt die Firma wie ein Profitcenter. Das funktioniert nach Paris; darüber hinaus wird es damit aber mit diesem Konstrukt kaum neue Direktzüge geben etwa aus der Deutschschweiz nach Marseille, Lyon oder Nizza. Dank Klima- und CO2-Gesetz können bald auch internationale Verbindungen finanziell gefördert werden. Möglicherweise wäre dies ein Ansatz, um in Kooperation mit der SNCF neue Direktverbindungen zu etablieren, die nicht von Anfang an Gewinn einfahren müssen.
Problem 2: Die Nachtzüge
Die Nachtzüge haben einen Vorteil: Sie geniessen verglichen mit der relativ kleinen Zahl an Passagieren, die sie transportieren, eine grosse Medienaufmerksamkeit. Doch diese ist eben auch da, wenn etwas nicht läuft. Und im Moment läuft vieles nicht: Auf vielen Verbindungen fehlen Schlaf- und Liegewagen, die WCs sind teilweise verdreckt, die Pünktlichkeit ist schlecht.
Abhilfe schaffen sollen die neuen Nightjet-Kompositionen, die die österreichische ÖBB als Betreiberin der meisten Nachtzüge in und aus der Schweiz per Ende Jahr endlich einsetzen können soll. Herstellerin Siemens hat mit der Verspätung der Lieferung massgeblichen Anteil daran, dass derzeit Reserven fehlen und ein stabiler Betrieb schwierig zu bewerkstelligen ist.
Die neuen Züge werden zunächst nicht auf den Verbindungen in die Schweiz eingesetzt, werden aber dafür sorgen, dass mehr Reserve-Rollmaterial bereitsteht. Das gilt es nun nicht zu verspielen: Neue Routen sollten nur aufgenommen werden, wenn die Bahn auch genügend Reserven zur Verfügung hat.
Mittelfristig sollte die SBB zusammen mit der ÖBB zudem darüber nachdenken, ein Zentrum für die Wartung der Nachtzüge in der Schweiz – idealerweise wohl in Zürich oder Basel – aufzubauen. Heute müssen defekte Wagen immer nach Wien, was zur Folge hat, dass die Züge teils tagelang kaputt mit Passagieren durch Europa fahren. Ein solches Unterhaltswerk wird umso dringender, wenn es dereinst tatsächlich neue Nachtzug-Verbindungen von Zürich nach Barcelona und nach Rom geben soll.
Auch Nachtzüge können zudem künftig wohl von finanzieller Förderung profitieren. Dieses Geld gilt es so einzusetzen, dass eine maximale Verlagerungswirkung vom Flugzeug zur Bahn erreicht werden kann. Möglicherweise heisst das auch, die Preise zu verbilligen, statt immer neue Verbindungen aufzunehmen.
Problem 3: Die Betriebszeiten
Dieses Problem ist keines, wenn man das ganze Land anschaut: Der ÖV fährt mehr oder weniger überall von mindestens 6 bis 24 Uhr. Solche Betriebszeiten muss man in ruralen Regionen in anderen Ländern erst einmal finden.
Es ist aber eines, wenn man nur die Ballungszentren anschaut. Zumindest in den Grossstädten Zürich und Genf und auf den Strecken hin zu ihren beiden Flughäfen wäre ein 24-Stunden-Betrieb in abgespeckter Version auch an Werktagen angezeigt. Das Nachfragepotenzial mag klein sein, doch schon mit wenig Nachtbus-Linien im Stunden- oder Halbstundentakt könnte all jenen ein Angebot geschaffen werden, die heute den ÖV wegen ihrer Arbeitszeiten nicht nutzen können: ÖV-Personal, Bäcker, Gastronomie-Mitarbeitende. Die Kosten dafür wären, verglichen mit Ausbauten an der Infrastruktur, bescheiden, und liessen sich durch einen Nachtzuschlag weiter senken.
Ein solches Netz ist in ziemlich allen grösseren europäischen Städten bereits Standard – und damit eines der wenigen Felder, in denen die Schweiz beim ÖV hinterherhinkt.
Problem 4: Der Komfort
In den letzten Jahren nahm die SBB viele neue Züge in den Betrieb. Eines haben sie gemein: Bequemer als die alten sind sie nicht, im Gegenteil.
Dass die Kübel etwa in der Zürcher S-Bahn verschwanden, lässt sich noch verschmerzen. Dass mittlerweile auch auf Interregio-Linien regelmässig Rollmaterial zum Einsatz kommt, das ganz klar in den S-Bahn-Bereich gehört, schon weniger. Doch auch bei Flaggschiffen im Fernverkehr ging einiges schief: Die Doppelstockzüge FV-Dosto bieten je nach Komposition noch immer ein Fahrerlebnis, das an ein Ruderboot auf dem Atlantik erinnert, und selbst in den sonst tadellosen Giruno-Zügen sind die Sitze hart wie ein Brett.
Bei künftigen Beschaffungen muss der Fokus wieder vermehrt auf den Komfort gesetzt werden. Wie das geht, zeigt die Südostbahn (SOB), deren ansonsten baugleiche Flirt-Züge von Stadler den Exemplaren der SBB dank besserer Innenausstattung weit überlegen sind. Dass es in der 1. Klasse nur drei Sitze pro Reihe gibt, dass im Fernverkehr jeder Platz eine Steckdose hat und dass Teppich liegt, muss wieder selbstverständlich werden – genauso wie bequeme Sitze. Beim FV-Dosto muss die SBB in Sachen Fahrkomfort dringend nachbessern, schliesslich wird dieser Zug noch jahrzehntelang das wichtigste Produkt im Fernverkehr bleiben.
Problem 5: Die Tarife
Das «Tarifchaos» kennen viele Entscheidungsträger der Branche nicht, weil sie mit dem GA unterwegs sind. Doch wer regelmässig Einzelbillette kaufen muss, der gerät angesichts von Zonengrenzen, verschiedenen Tarifverbünden und Check-In-Lösungen, die doch nicht immer so zuverlässig funktionieren wie versprochen, gelegentlich an die Grenzen seiner Nerven.
Immerhin: Die Branche hat das Problem erkannt und strebt eine Neuordnung an. «Grobkonzept Integriertes Tarifsystem» (GITA) heisst eines der Projekte, mit dem die Alliance Swisspass die Tarifwelt vereinfachen will. Auch myRIDE soll die ÖV-Welt einfacher machen und zudem massgeschneiderte Rabatte und Abrechnung ermöglichen.
Ob das reicht, ist eine andere Frage. Frischen Wind könnte eine Öffnung der Vertriebssysteme zu klar festgelegten Konditionen bringen. Wieso soll nicht Google in der eigenen Karten-App Billette des ÖV verkaufen dürfen – wenn die Firma damit keinen Gewinn macht und einen Support anbieten oder sich am Support der ÖV-Branche finanziell beteiligen müsste? Vielleicht würde eine Zusammenarbeit mit den hierzulande stark vertretenen IT-Riesen ja sogar zu besseren Lösungen für alle führen.
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