Benedikt Weibel will erste Auto-Kilometer stärker besteuern und sagt: «Nachtzüge machen ökologisch keinen Sinn»

Benedikt Weibel. Bild: zvg

Benedikt Weibel leitete während 13 Jahren die SBB, war im Verwaltungsrat der französischen SNCF und präsidiert die österreichische Westbahn. Jetzt hat er sein siebtes Buch geschrieben. Im Interview verrät er, was das Problem an Nachtzügen ist und warum er von Subventionen für Lastenvelos wenig hält.

von Stefan Ehrbar
15. September 2021

Herr Weibel, ihr neues Buch «Wir Mobilitätsmenschen» ist ihr siebtes. Warum haben Sie es geschrieben?
Ich bin seit 43 Jahren in sehr vielen verschiedenen Funktionen in diesem Markt tätig. Ich leitete die SBB, bin heute bei der Westbahn, war Verwaltungsrat der SNCF, Präsident der Rheinhäfen und bin nun für das Verkehrsdossier des nächsten Eidgenössischen in Pratteln zuständig. Ich kenne mich in der Mobilität und bei der Bahn wirklich aus. Da lag es als Thema auf der Hand. Mit der Klimakrise ist jetzt der Moment gekommen, sich mit der Mobilität auseinanderzusetzen.


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Der Untertitel lautet «Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr». Was verstehen sie unter nachhaltigem Verkehr?
Das ist Mobilität, die Rücksicht nimmt auf die Ressourcen der Erde. Sie muss CO2-neutral sein. Dekarbonisierung ist zentral. Ganz wichtig ist aber auch die Energiestrategie: Wir brauchen mehr grüne Energie. Die Mobilität wird auch in Zukunft zunehmen. Wir müssen also sicherstellen, dass der Verkehrsfluss auch künftig akzeptabel ist. Dazu müssen wir Wege vermeiden, auf andere Verkehrsmittel verlagern und eine verträgliche Mobilität entwickeln.


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Stichwort vermeiden: Mit Corona hat das Homeoffice einen Boom erlebt. Hilft das langfristig?
Das Homeoffice wird wieder abnehmen. Es wird ein hybrides Modell geben. Homeoffice ist eine grosse Chance, wenn wir es intelligent steuern. Bei vielen kristallisiert sich ein Modell heraus, bei dem Arbeitnehmer drei Tage ins Büro gehen und zwei Tage von zuhause arbeiten. Wichtig ist einfach, dass das nicht alle an den gleichen beiden Tagen machen. Die Coronakrise hat aber sonst noch etwas wichtiges aufgezeigt.

Was denn?
Die Chancen, welche digitale Tools wie Skype oder Zoom bieten. Ich mache ein Beispiel: Ich habe heute ein Treffen mit dem Strategischen Komitee der Westbahn. Früher war das jeweils am Flughafen Zürich. Kollegen kamen aus Wien und Paris angeflogen, ich fuhr mit dem Zug von Bern dahin. Seit Beginn der Krise führen wir das Meeting digital durch. Damit sparen wir pro Sitzung sechs Arbeitstage durch den Wegfall der Flüge. Das ist ein wunderbares Beispiel für win-win. Das werden wir so beibehalten.

Eine eher negative Folge von Corona ist allerdings, dass das Auto bei vielen wieder an Beliebtheit gewonnen hat.
Warum das so ist, hat man nie genau analysiert. Ich selbst fahre viel Zug. Ich stelle dabei fest, dass die 1. Klasse viel weniger besetzt ist als vor der Krise. Das ist in der 2. Klasse nicht so stark der Fall. Meine These ist, dass sehr viele Seniorinnen wieder Auto statt Zug fahren. Aber das geht vorbei – anders als die Klimakrise. Mit zunehmendem Stau wird sich auch der Verkehr wieder regulieren. Klar ist: Wenn wir das Klima retten wollen, und die Schweiz hat sich zur CO2-Neutralität bis 2050 verpflichtet, ist die Bahn unverzichtbar.


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In ihrem Buch äussern sie sich kritisch zu Nachtzügen, die derzeit viel Medienaufmerksamkeit geniessen. Warum?
Ich muss etwas ausholen. Grundsätzlich gilt: Wir haben uns verpflichtet, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Die Bahn ist dafür unverzichtbar. Selbst die bescheidene Zielsetzung einer Reduktion von 20 Prozent seit 1990 haben wir nicht erreicht – und zwar vor allem wegen dem Verkehr. Die Mobilität hat seither stark zugenommen. Wenn wir das Problem angehen wollen, dann müssen wir aber das Gesamtsystem ansehen. Einzelne Elemente wie die Nachtzüge herauszupflücken und sich darauf zu fokussieren, macht wenig Sinn.

Was ist denn das Problem an Nachtzügen?
Sie machen einfach ökologisch keinen Sinn. Hinzu kommt, dass sie ohne Subventionen gar nicht tragfähig sind. Wenn aber der Staat etwas subventioniert, muss er sich doch fragen, ob er den gleichen oder einen grösseren Effekt nicht mit anderen Massnahmen besser erreichen könnte. Ein 400 Tonnen schwerer Nachtzug transportiert 300 Menschen durch die Nacht. Die Deutsche Bahn oder Flixtrain fahren mit normalen Zügen in der Nacht mit 900 bis 1000 Passagieren. Das macht viel mehr Sinn. Nachtzüge sind auch nicht das einzige Beispiel für eine seltsame Prioritätensetzung.

Welches fällt ihnen noch ein?
Die deutschen Grünen wollen den Kauf von Lastenvelos mit 1000 Euro zu subventionieren und dafür insgesamt eine Milliarde Euro ausgeben. Das macht einfach keinen Sinn! Wir müssen das Gesamtsystem angehen.


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Was schwebt ihnen dabei vor?
Mit der Digitalisierung können wir die Infrastruktur besser ausnutzen. Im Durchschnitt sind die Auslastungen auf Schiene und Strasse sehr schlecht. Das kann man verbessern. Verkehrsmittel können besser genutzt werden. Entscheidend sind der Durchsatz (die Menge von Personen und Gütern, die sich durch einen definierten Querschnitt bewegen) , die Flächen- und die Energieeffizienz. Das ist auch der Grund, weshalb Autos in der Stadt nicht viel zu suchen haben. Sie haben einen ganz schlechten Durchsatz. In der Fläche aber sind Autos unverzichtbar. Dasselbe gilt für den Güterverkehr: Auf langen Strecken hat die Bahn einen riesigen Vorteil, auf kurzen nicht. Am effizientesten ist übrigens der Fussverkehr. Auf kurzen Strecken hat er den höchsten Durchsatz.

Der ÖV macht dort Sinn, wo viele Leute unterwegs sind. Einverstanden?
Ja. Der ÖV ist gebündelter Verkehr, das Auto Streuverkehr. Das Problem am Auto: 50 Prozent der Fahrten finden auf Distanzen von weniger als 10 Kilometer statt. Dafür braucht es in den wenigsten Fällen ein Auto. Die grösste Innovation ist unscheinbar: Es ist das E-Bike. Das ist in der Stadt und in den Agglomerationen unschlagbar auch in Sachen Tempo und unabhängig von der Topographie. Hier müssen wir ansetzen – genauso wie bei der Förderung des Fussverkehrs. Die simpelste Formel lautet: Jeden Tag 10’000 Schritte. Das ist nicht nur eine nachhaltige Form der Mobilität, sondern auch gesund – und gibt Zeit zum Reflektieren. Mir sind die besten Ideen für das Buch gekommen, als ich zu Fuss unterwegs war.

Welche anderen Ideen sind wichtig?
Wichtig sind aber auch Ansätze wie die 15-Minuten-Stadt. Die wichtigsten Läden und Institutionen sollen in einem Umkreis von 15 Minuten zu Fuss erreichbar sein. Auch auf dem Land ist vieles möglich. So gibt es bereits heute automatisierte Läden für den täglichen Bedarf, die 24/7 offen sind. Solche Ansätze vermeiden ganz viel Verkehr.


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Trotzdem braucht es Strassen, die heute zu einem grossen Teil durch die Mineralölsteuer und den Mineralölsteuerzuschlag finanziert werden. Mit Elektroautos fallen diese Einnahmequellen weg. Wie kann das kompensiert werden?
Wir werden Fahrleistungen besteuern müssen. Das ist auch möglich, denn Autos werden sowieso zu fahrenden Computern. Dabei können die Menschen auch sanft in eine Richtung geschubst werden – etwa, in dem die ersten Kilometer stärker besteuert werden, so dass kürzere Wege weniger mit dem Auto zurückgelegt werden.

Im zweiten Teil des Interviews mit Benedikt Weibel lesen Sie nächste Woche, wohin die Westbahn expandieren will und wie Weibel den Kauf von Zügen beim chinesischen Hersteller CRRC verteidigt.

1 Kommentar

  1. Wenn Benedikt Weibel einerseits sagt, ÖV ist gebündelter Verkehr, das Auto Streuverkehr und andererseits, kürzere Wege sollen nicht mit dem Auto zurückgelegt werden, entsteht ein Widerspruch. Wenn kürzere Wege höher besteuert werden, fährt jemand von seinem abgelegenen Wohnsitz mit dem Auto nicht 5 km zum nächsten Bahnhof und steigt dort auf die Bahn um, sondern bleibt bis zum entfernteren Ziel im Auto. Wenn dem Auto die Rolle des Feinverteilers in der Fläche zukommen soll, dann müssten eher die langen Distanzen, auf denen die Stärken des ÖV liegen, stärker besteuert werden. Die Frage der Verfügbarkeit und Zumutbarkeit von Alternativen zum Auto ist aber keine Frage der Distanzen und deshalb ist es zwar richtig, Fahrleistungen zu besteuern, aber nicht in Abhängigkeit zu den Distanzen der einzelnen Fahrten.

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