ÖV-Geschenk zum Geburtstag, günstige Mitfahrtickets und mehr ÖV an Anlässen: Die Modalsplit-Pläne der Branche

Wie kann der Schweizer ÖV wieder zulegen? Bild: SBB

Der Modalsplit des ÖV stagniert seit Jahren – und ging wegen der Coronakrise zuletzt sogar zurück. Der Bund will das mit einem Ausbau in den Agglomerationen ändern. Nun verpflichtet sich auch die Branche auf Massnahmen, die schnell umzusetzen sind. Besonders Jüngere werden angesprochen. 

von Stefan Ehrbar
12. September 2022

Der öffentliche Verkehr in der Schweiz hat ein Problem – nicht erst seit Corona. Sein Anteil an den zurückgelegten Distanzen und Wegen, der sogenannte Modalsplit, steigt trotz milliardenschweren Investitionen seit Jahren nicht mehr an. Im Jahr 2019 wurden 20,6 Prozent der Personenkilometer hierzulande mit Bahn, Bus oder Tram zurückgelegt, nur gerade 0,6 Prozentpunkte mehr als im Jahr 2006.

Im Coronajahr 2020 sank dieser Anteil laut Zahlen des Bundesamt für Statistik gar auf 16,7 Prozent. Der Bund will mit der «Perspektive Bahn 2050» Gegensteuer geben. Mit einem Ausbau des Angebots insbesondere in den Agglomerationen soll der Modalsplit wieder erhöht werden. Allerdings nimmt der Bund mittlerweile Abstand von den früher kommunizierten Zielen, den Anteil der Bahn auf 42 Prozent der Kilometer zu verdoppeln.

Neben den Plänen des Bundes hat auch die ÖV-Branche im Juni 2021 eine Studie vorgestellt, die aufzeigt, wie eine deutliche Steigerung machbar wäre. Dazu wurden 38 Massnahmen identifiziert (Mobimag berichtete).

Ein grosser Teil davon ist nur mit Ausbauten der Infrastruktur und des Angebots möglich. Darüber muss die Politik entscheiden. Doch in einem kleineren Rahmen können auch die Transportbetriebe in Eigenregie Massnahmen ergreifen, um den Modalsplit zu erhöhen.

Welche das sein könnten, haben Vertreter des Verband öffentlicher Verkehr (VöV), der Alliance Swisspass und verschiedener Verkehrsbetriebe nun analysiert. In einer letzte Woche veröffentlichten Studie zeigen sie schnell umzusetzende Massnahmen auf, welche die Branche selbständig beschliessen kann und die den Modalsplit erhöhen können. Auf einige davon hat sich die Branche im Rahmen eines «Branchen-Commitments» verpflichtet.

Die Autoren orientieren sich in der Studie stark am Konzept der Lebenswendepunkte. Dazu gehören beispielsweise die Volljährigkeit, der Eintritt ins Arbeitsleben, die Familiengründung oder die Pensionierung. Es sind Zeitpunkte, zu denen viele neue Routinen aufgebaut werden und im Bereich Mobilität Entscheide gefällt werden, die meist jahrelang Bestand haben.

Wer beispielsweise mit Erreichen der Volljährigkeit ein Privatauto anschafft, wird danach den ÖV viel weniger oft nutzen. Mit der Familiengründung entscheiden sich noch immer die meisten Eltern für den Kauf eines Autos, was sich danach negativ auf die ÖV-Nutzung auswirkt. Und mit der Pensionierung erhalten viele auch mehr Freizeit - und stellen sich die Frage, ob sie ein GA anschaffen oder auf das Auto setzen wollen.

Einer der frühesten Lebenswendepunkte ist der Zeitpunkt, zu dem Kinder sich selbständig fortzubewegen beginnen. Hier will die Branche ansetzen: In Anlehnung an das «best practice»-Beispiel des Kanton Zürich, in dem fast alle Grundschüler über die Benützung und die Funktion des ÖV aufgeklärt werden, will die Branche den ÖV in den Lehrplänen verankern und die Lehrpersonen und Schulleitungen dazu animieren, ihn zu thematisieren. Denn, so die Autoren: «Viele junge Menschen haben im familiären Umfeld keinen Bezug zum öffentlichen Verkehr und letztlich nutzt rund die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz den ÖV selten oder nie».

Die Schule könnte hingegen die Kinder mit dem ÖV vertraut machen. «Ob der ÖV Teil ihres Mobilitätsverhaltens werden kann, hängt von der Grundvoraussetzung ab, dass Kinder das System überhaupt kennen und Gelegenheit haben, sich darin selbstständig oder mit Kolleginnen und Kollegen zu bewegen und wohlzufühlen», heisst es in der Studie. Das Rad muss dafür nicht neu erfunden werden: So gibt es etwa bereits Lehrmittel des ZVV.

Auch etwas später setzen die Autoren an: Das Erreichen der Volljährigkeit und der Eintritt ins Arbeitsleben, der oft in etwa zusammenfällt und zu dem viele das erste Auto kaufen, soll nicht einfach kampflos dem Auto überlassen werden. Stattdessen will die Branche allen in der Schweiz wohnhaften 18-Jährigen künftig ein «grosszügiges» ÖV-Willkommensgeschenk ausstellen – und sie darüber informieren, dass die flexible Mobilität auch mit einer Kombination von ÖV und Carsharing möglich ist.

Zudem will die Branche vermehrt auf Gleichaltrige setzen. Denn ab einem gewissen Alter hat der Freundeskreis einen grösseren Einfluss auf Jugendliche als die Eltern. Die Idee der Branche: Wenn jugendliche Abo-Besitzer günstig Mitfahrkarten für ihre Kolleginnen und Kollegen kaufen können, geraten auch diese in Kontakt mit dem ÖV und können von diesem überzeugt werden.

Zudem will die Branche die bereits bestehenden Freizeit-Abos und Tageskarten für Jugendliche deutlich attraktiver machen, etwa, indem das Abo «seven25» in einem grösseren Netz gültig ist oder günstiger abgegeben wird. Auch ein Mitnahme-GA und günstige Tageskarten werden geprüft.

Daneben hat sich die Branche auf die Umsetzung dieser Massnahmen mit einem Zeithorizont von zwei bis fünf Jahren geeinigt:

  • National koordinierte Marktbearbeitung des Geschäftskundenbereichs: Es soll ein Beratungsangebot für nachhaltige Unternehmensmobilität aufgebaut werden sowie ein Mobilitäts-Label, mit dem Unternehmen ausgezeichnet werden, die sich zu nachhaltiger Mobilität bekennen
  • Für mittelgrosse und wiederkehrende kleinere Veranstaltungen sollen «tarifarisch interessante und angebotsseitig adaptierte Konzepte» geschaffen werden, die etwa die An- und Rückreise mit dem ÖV inkludieren. Während dies bei grösseren Veranstaltungen schon sehr gut funktioniert, sieht die Branche bei kleineren Anlässen noch Potenzial.
  • National koordinierte ÖV-Image- und Marketingkampagnen: Es sollen breit angelegt, zeitlich begrenzte und national koordinierte ÖV-Image- und Marketingkampagnen durchgeführt werden, die potenzielle Kunden «insbesondere betreffend Klimaverträglichkeit und Lifestyle auf der Gefühls- und Werteebene ansprechen».

Riesige Effekte sind nicht zu erwarten: «Die öV-Branche ist überzeugt, beim Modalsplit eine Trendumkehr, d.h. wieder eine Steigerung des öV-Anteils herbeiführen zu können», heisst es in der Studie zwar. Aber: «Das Potenzial für die Erhöhung des Modalsplits durch alleinige Massnahmen der Transportunternehmen ist gegeben, für sich allein betrachtet jedoch begrenzt. Wenngleich eine Wirkungsabschätzung schwierig ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Massnahmen – wenn sie isoliert betrachtet werden – höchstens einzelne Prozentpunktgewinne bringen können und eine signifikante Steigerung des öV-Anteils am Gesamtverkehr zusätzlicher Massnahmen anderer Akteure bedarf.»

Ohne grössere Investitionen der öffentlichen Hand dürfte also die Trendumkehr nicht gelingen. Weiterhin kein Thema sind in den Erwägungen des Bundes und der Branche die Ticketpreise. Warum das ein Problem sein könnte, wird in dieser Mobimag-Analyse beleuchtet.

1 Comment

  1. Die hier genannten Ansätze finde ich wirklich gut. Ein Punkt wird aber immer wieder ausser Acht gelassen:
    Leute, die den ÖV selten bis nie benutzen, haben kein Halbtax. Das heisst, für sie ist der ÖV teuer und daher komplett unattraktiv. Ich denke, die Anzahl Vollpreis-Tickets, die von Leuten, die in der Schweiz wohnen, gekauft werden ist enorm klein. Die gesamte Preispolitik muss angepasst werden.

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