Im Kampf gegen den Klimawandel bringe das Velo gar nicht so viel, schreibt das deutsche Magazin «Der Spiegel» – und in Sachen Platzbedarf schneide es sowieso schlecht ab. Die Zahlen seien falsch interpretiert worden, argumentieren Anhänger des Velofahrens. Wer hat recht?
von Stefan Ehrbar
17. August 2022
Bei den Verfechtern des Velofahrens hat sich das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» zuletzt keine Freunde gemacht. «Wird das Fahrrad überschätzt?», fragte es in einem Artikel – und bilanzierte: «Dem Klimaschutz hilft das Fahrrad kaum».
Zwar attestieren die Autoren des Texts dem Velo durchaus positive Eigenschaften. «Es kann die lange verschleppte Verkehrswende voranbringen und die Lebensqualität erhöhen. Städte wie Paris, Kopenhagen und Amsterdam zeigen: Ganze Quartiere blühen auf, wenn es mehr klingelt und weniger stinkt», schreiben sie.
Untersuchungen aus Deutschland zeigten, dass sich Menschen lieber in ihrem Viertel aufhielten, wenn das Velo Vorfahrt bekomme. Sie nähmen wahr, dass sich die Luft bessere und fühlten sich im Verkehr sicherer. Zudem sei man auf dem Velo in Städten oft schneller unterwegs als mit dem ÖV oder dem Auto.
Aber die gut 200 Jahre alte Erfindung des Velos sei kein Allerheilmittel und eher ein Puzzlestein der Verkehrswende.
Denn nicht überall schnitten die Velos so gut ab. Laut Zahlen der britischen Cycling Embassy könnten auf einer Velospur zwar bis zu 14’000 Menschen pro Stunde verkehren – siebenmal mehr als auf einer Autospur. Aber das gelte nur bei gleichmässigem, gemässigtem Tempo ohne Drängeln und mit kurzen Abstände. Und Bus und Bahn seien dem Velo in Sachen Flächeneffizienz weit überlegen.
Dafür verweisen die Autoren auf die Zahlen des Verkehrsforscher Martin Randehoff, der den Flächenbedarf pro Kopf verglichen hat. Im Stillstand nimmt eine Person im Auto demnach zehnmal so viel Raum ein wie eine auf dem Velo. Wegen Sicherheits- und Bremsabständen nähern sich die beiden Verkehrsmittel aber schon bei Tempo 30 an. Ein Velo braucht dann noch 41 Quadratmeter, ein Auto 64. Selbst in einem schwach besetzten Tram beträgt der Flächenbedarf pro Kopf aber nur 5,5 Quadratmeter.
Auch Mobimag berichtete schon über diese Zahlen, die auch belegen, dass ein Velofahrer bei Tempo 30 fast zehnmal so viel Fläche benötigt wei ein Passagier in einem zu 40 Prozent besetzten Linienbus.
Doch nicht nur in Sachen Flächeneffizienz mäkelt der «Spiegel» am Velo herum, auch in Sachen Klimaschutz werde es eher überschätzt. Denn mit dem Velo liessen sich zwar viele Autofahrten ersetzen, aber nicht viele Autokilometer. Selbst im Veloparadies Niederlande würden zwar 28 Prozent der Wege mit dem Velo zurückgelegt, aber nur acht Prozent der Strecken. Auf längeren Strecken dominiere auch dort das Auto. «Das Fahrrad hat viele Vorzüge. Fürs Klima aber reicht es leider nicht, nur öfter in die Pedale zu treten», schliesst der Artikel
Er hat sofort Gegenrede ausgelöst. So meldete sich etwa Martin Randelhoff, von dem die Flächenberechnung stammt, auf Twitter. «Es wurde wieder einmal missverstanden, dass der Flächenbedarf im Stand und nicht der sich verschiebende Abstandsblock bei der Fahrt das Problem ist», schreibt er. In seinen Zahlen stecke «Potenzial für Fehlinterpretation».
Ist der Flächenbedarf im Stillstand tatsächlich die einzig relevante Zahl? Nicht unbedingt. Für die Dimensionierung von Strassen ist der Flächenbedarf bei der Fahrt durchaus relevant, gerade in engen Städten, in denen der Platz knapp ist. Gleichzeitig steht ein durchschnittliches Auto etwa 23 Stunden pro Tag, auch Velos werden die meiste Zeit nicht genutzt. Ihr Flächenbedarf im parkierten Modus ist also tatsächlich sehr relevant.
Nicht unterschätzt werden sollte auch der Nutzen des Velos in Bezug auf den Klimawandel. Zwar sind die Zahlen zutreffend, wonach nur ein kleiner Teil der Kilometer mit dem Velo zurückgelegt wird. In den Niederlanden sind das die erwähnten 8 Prozent, in der Schweiz waren es bei der letzten Erhebung der ETH Zürich anfangs Jahr sogar nur gut 3 Prozent.
Das heisst aber auch, dass hierzulande noch viel Potenzial brach liegt – und weltweit sowieso. Eine neue Umfrage des Instituts Ipsos hat gezeigt, dass mit 52 Prozent der Befragten in 28 Ländern die meisten das Velofahren in ihrer Gegend als zu gefährlich ansehen. Global gesehen nutzen nur 14 Prozent das Velo auf Strecken von 2 Kilometern oder weniger als Verkehrsmittel. In den Niederlanden sind es 45 Prozent, in China 33 und in Japan 27 Prozent. Millionen von Autofahrten täglich könnten ersetzt werden, würden überall niederländische Verhältnisse herrschen.
Die Verlagerung von Kurzstrecken-Fahrten aufs Velo ist aber besonders wertvoll. Als Faustregel gilt: Ein Auto verbraucht auf der Autobahn bei 80 Kilometer pro Stunde etwa halb so viel Benzin pro Kilometer wie bei Tempo 30 im ersten Gang. Gerade in den Städten, wo viele Kurzstreckenfahrten stattfinden, ist Stop-And-Go in tiefen Gängen aber Usus – und hier könnten sie besonders einfach durch Velofahrten ersetzt werden.
Martin Randelhoff verweist zudem auf eine Studie von Forschern verschiedener Universitäten, die 2021 im Magazin «Transportation Research» erschienen ist. Sie kann hier kostenlos gelesen werden (auf Englisch).
Für die Studie wurde das Verhalten von 3836 Menschen aus sieben europäischen Städten analysiert, darunter Zürich. Die Daten belegen: Velofahrer kommen auf durchschnittlich 84 Prozent geringere reisebedingte CO2-Emissionen als Nicht-Velofahrer. Jede zusätzliche Velofahrt pro Tag senkt die Emissionen um 14 Prozent, jede vermiedene Autofahrt sogar um 62 Prozent.
Nicht berücksichtigt wurde in dieser CO2-Reise-Bilanz allerdings das Fliegen, was die Aussagekraft schmälert. Vielflieger haben eine schlechte CO2-Bilanz. Gleichzeitig fliegt niemand mehr als Bewohner grosser Städte, wo auch überdurchschnittlich oft Velo gefahren wird (Mobimag berichtete). Insbesondere Personen mit hohen Einkommen und jüngere Erwachsene, die in Grossstädten in Flughafennähe leben, sind häufig mit dem Flugzeug unterwegs. Doch auch wenn es zwischen Velofahren und Fliegen eine Korrelation geben mag, weil Besserverdienende, urban lebende Menschen häufiger aufs Zweirad und ins Flugzeug steigen, ist das noch keine Kausalität. Es bleibt das Fazit: Aus Klimaschutzgründen lohnt sich der Umstieg vom Auto aufs Velo immer.
Guter Artikel, ich möchte aber noch zwei Punkte ergänzen:
1. Über Emissionen wird kaum geschrieben. Radfahren verursacht weniger Klimabelastung als der ÖV. Kurze Strecken mit dem Velo und lange mit dem Zug ist eine wunderbare Möglichkeit, klimafreundliche Mobilität zu leben.
2. Der Fokus auf den Flächenverbrauch des Verkehrsmittels ist wichtig. Der müsste aber immer in Relation zu den vorhandenen Flächen gestellt werden. Ein gewisser Abstand zwischen den Häusern muss sein, weil man sonst kein Licht in die Wohnungen bekommt.