Die Schweiz braucht Ziele, nicht Prognosen: Die Verkehrsplanung braucht ein Umdenken (Gastbeitrag)

Welche Vision für die Mobilität der Zukunft hat die Schweiz? Bild: Teo Zac / Unsplash

Der Bund hat im November die Verkehrsperspektiven 2050 veröffentlicht. Sie prognostizieren die Veränderungen der Schweizer Mobilität in den nächsten 30 Jahren und bilden eine zentrale Grundlage für den Ausbau unserer Verkehrsinfrastruktur. Ein Blick in die Verkehrsperspektiven der letzten Jahrzehnte zeigt, dass diese Prognosen oft an der Realität vorbeigehen. Methode und Modell sind einwandfrei, nur die Realität zu komplex. Die Verkehrsplanung der Schweiz braucht deshalb ein Umdenken. Statt die Planung auf unsichere Prognosen zu stützen, sollten wir uns fragen, welche Mobilität wir in Zukunft tatsächlich wollen.

von Thomas Hug, Julian Renninger und Tobias Bowald*
21. Dezember 2021

Verkehrsprognosen sind schwierig, besonders für eine ferne Zukunft
Die Welt vor 30 Jahren. Telefone sind auschliesslich zum Telefonieren da und Verbindungen im öV werden noch in Kursbüchern nachgeschlagen. In Zürich entsteht das erste S-Bahn Netz der Schweiz und die Bahn 2000 nimmt langsam an Fahrt auf. An Homeoffice, autonome Fahrzeuge und ein weltumspannendes Internet glauben nur Utopisten und SciFi-Fans. Von Klimawandel und Bienensterben reden nur Dystopen und Weltuntergangs-Fans.


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Der Blick zurück zeigt: Oft werden wir von den Entwicklungen überrascht. Trotzdem vertrauen wir den Verkehrsprognosen und nutzen sie als Entscheidungsgrundlage für die Planung der Mobilität der Zukunft. Warum?

Kurzfristig funktionieren Verkehrsprognosen wie Wettervorhersagen. Sie sind einigermassen zuverlässig, nur hin und wieder werden wir von einem Gewitter überrascht. Langfristig nimmt die Zuverlässigkeit jedoch stark ab. Verkehrsprognosen werden durch soziokulturelle Trends, technologische Entwicklungen oder politisch-regulatorische Massnahmen beeinflusst, die sich gegenseitig verstärken. Während sich das Klima langfristig an physikalische Modelle hält, benimmt sich der Mensch unvorhersehbarer. So lässt er sich nur schwer langfristig mathematisch modellieren.

Im Sinne der Methode vereinfachen die Verkehrsprognosen dabei die Umstände und treffen Annahmen. Dazu gehört beispielsweise die Umsetzung von Mobility Pricing oder die Etablierung neuer Mobilitätsangebote. Beides Massnahmen, die politisch noch kaum diskutiert sind. Welchen Effekt das Mobility Pricing auf das Verhalten der Menschen hat, ist völlig offen und hängt massgeblich von der tatsächlichen Ausgestaltung ab.


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Im Vergleich zu den Verkehrsperspektiven 2040 und 2030 werden solche Unsicherheiten deutlich. So gehen die Verkehrsperspektiven 2050 von einem halb so grossen Wachstum im Personenverkehr aus wie die Verkehrsperspektiven 2040; wobei vor allem mit den Auswirkungen des zunehmenden Homeoffices seit der Pandemie argumentiert wird. Auch der Fuss- und Veloverkehr soll sich bis 2050 verdoppeln, während dieser in den Verkehrsperspektiven 2030 und 2040 eine eher marginale Rolle spielte. Gesellschaftliche Trends und politische Entscheidungen beeinflussen die Perspektiven somit massgeblich und führen dazu, dass die Perspektiven statt objektiver Prognosen doch eher ein Abbild der aktuellen Stimmungslage darstellen.

Klimaneutrale Zukunft mit den Verkehrsperspektiven 2050 kaum realistisch
Selbst wenn die Perspektiven grosszügig als Vision und Ziele interpretiert würden, bleiben sie klare Ansagen schuldig. So kann auch im nachhaltigsten Szenario das 1.5 Grad Ziel bis 2050 gemäss Pariser Klimaabkommen nicht erreicht werden. Denn bis 2050 würden noch immer 15% der Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor unterwegs sein. Zudem wächst der Verkehr absolut gesehen weiter – auch beim Auto. Eine klimaneutrale Verkehrswende wäre unter diesen Umständen kaum möglich. Wohl mit ein Grund, weshalb die Schweiz die Deklaration zur Dekarbonisierung des Verkehrs an der COP 26 in Glasgow nicht unterzeichnete.


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Verkehrsperspektiven sind selbsterfüllende Prophezeiungen
Die Mobilität wird massgeblich durch die Bautätigkeit beeinflusst. Wo Strassen gebaut werden, wird es Autos geben. Wo Velowege erstellt werden, wird es Velos geben und wo ÖV-Haltestellen entstehen, fahren die Menschen Bahn, Tram oder Bus. In der Mobilität wird dies induzierte Nachfrage genannt. Wo ein Angebot geschaffen wird, entsteht in der Regel auch eine Nachfrage – umgekehrt entsteht ohne Angebot auch keine Nachfrage.

Wenn nun aufgrund der Verkehrsperspektiven Autobahn und Schienen ausgebaut werden, dann wird dies auch mehr Autoverkehr und Zugverkehr generieren. Die Prognose sorgt also für den Ausbau der Infrastruktur, die dann wiederum für das entsprechende Verkehrswachstum sorgt. Die Prognose erfüllt sich selbst. Die Perspektiven sagen eine Zukunft voraus, die sie selbst massgeblich beeinflussen. Sie sind sprichwörtlich Huhn und Ei zugleich.


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Ziele statt Prognosen
Statt mit komplexen Modellen mögliche Zukunftsszenarien zu prophezeien, sollten gemeinsame Visionen und Ziele unser Handeln anleiten. Das ist ehrlicher, denn auch Prognosen wirken wie Ziele.

Die nötigen Massnahmen können sich dabei auf den politischen Aushandlungsprozess der Ziele stützen. Entscheide werden so transparenter und spezifische Verkehrsmittel können gezielt in ihren Stärken gefördert werden. Ein Wechselspiel von Wirkungsmessung und Massnahmen führt zur Erreichung der Ziele – ohne dass wir uns auf komplexe Prognosen verlassen müssten.


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Lassen wir uns nicht von Prognosen ablenken, können wir einen ehrlichen Diskurs darüber führen, wie die Mobilität der Zukunft aussehen sollte. Eine klare, ambitionierte Vision hilft auch, dass die Schweiz in der fortschrittlichen Mobilität weiterhin zur Weltspitze gehört.

* Thomas Hug verbindet in seinen Tätigkeiten Mobilität, Raum und Mensch. Als Verkehrsplaner mitbegründete er das integrierte Planungsbüro urbanista.ch. Als Referent und Mitinitiator von verschiedenen Projekten erarbeitet er Lösungen, wie sich Menschen von der Verkehrswende überzeugen lassen können.

Julian Renninger arbeitet bei einem grossen Schweizer Bahnunternehmen an Themen rund um die erste und letzte Meile. Unter utopieverdacht.space organisiert er jährlich Utopielabore. Er schreibt hier als Privatperson.

Tobias Bowald unterstützt als Mobilitätsexperte und Berater von Q_PERIOR Unternehmen und Verwaltungen bei der Digitalisierung und setzt sich bei schrittmacher.in für eine klimaneutrale Mobilität der Zukunft ein. Er schreibt hier als Privatperson.


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