Thomas Hug ist Verkehrsplaner und gründete das integrierte Planungsbüro urbanista.ch mit. Im Interview verrät er, wieso die Situation für Velofahrende in der Stadt Zürich noch immer schlecht ist, warum er Parkplätze in der Stadt weiter abbauen will und wieso der ÖV nur noch marginal neue Kundinnen und Kunden gewinnt.
von Stefan Ehrbar
4. Januar 2022
Herr Hug, Sie gehören zum Team der Datengenossenschaft Posmo. Was macht diese?
Es geht um ein Zukunftsmodell, wie man mit Daten umgeht. Heute sind diese meist in der Hand von einzelnen Unternehmen und in Silos gelagert. Die SBB beispielsweise sammelt unglaublich viele Daten. Diese müssen aber breiter verfügbar gemacht werden, damit sie gemeinschaftlichen Nutzen stiften können. Die Idee der Datengenossenschaft ist, dass ihr die Leute ihre Daten zur Verfügung stellen.
Kann ein Nutzer entscheiden, welche von ihm erhobenen Daten er mit der Genossenschaft teilen will?
Die Genossenschafterinnen und Genossenschafter kontrollieren demokratisch, wie die Daten genutzt werden – operativ entscheidet jeweils ein Ethikrat, ob Daten gemeinschafltichen Zwecken dienen. Bei kommerziellen Projekten können die Leute individuell entscheiden. Das Problem an einer solchen Opt-In-Option für einzelne Datensätze ist, dass sie zu einem Bias führen können und die Daten dadurch an Qualität verlieren.
Sie stecken auch hinter der Karte Velobserver, welche die Qualität der Velorouten in der Stadt Zürich bewertet.
VelObserver ist aus einem anderen Kanal heraus entstanden, seine Daten werden aktuell nicht weiterverkauft. Der VelObserver ist aber auch in der Genossenschaft Posmo organisiert.
Welche Daten können Nutzer beim Velobserver überhaupt beisteuern? Derzeit werden die Strassen ja von Experten bewertet.
Wir arbeiten an einem Prototyp, mit dem alle die städtischen Velorouten selbst bewerten können, und zwar subjektiv. Das ist uns wichtig. So soll die Karte abbilden, wo sich Velofahrerinnen und Velofahrer sicher fühlen. Expertenmeinungen gibt es schon genug.
Wir wird das umgesetzt?
Eine niederschwellige Lösung zu finden, ist extrem schwierig. Im Moment experimentieren wir auch mit Fotos. Für viele Nutzerinnen und Nutzer ist es nicht so einfach, auf Karten zu navigieren.
Was ist der Vorteil von subjektiven Einschätzungen durch «gewöhnliche» Velofahrer?
Letztlich ist es die subjektive Einschätzung, die massgebend dafür ist, ob wir Velo fahren oder nicht. Wer Angst hat, wird weniger Velo fahren. Massgebend dafür ist die Infrastruktur. Eigentlich wissen wir aus Städten wie Berlin oder Paris, wie eine ideale Veloroute aussieht. Wenn wir zeigen können, dass der Sonderweg der Stadt Zürich für viele ein Problem darstellt, dann wird das den Handlungsdruck erhöhen.
Ist der denn in der Verwaltung nicht da?
Viele Fachleute dort sind auch frustriert. Sie wollen etwas Gutes für das Velofahren erreichen, stehen aber an. Mit unserer Plattform wollen wir ihnen sozusagen ein Mittel geben, um auch innerhalb der Verwaltung argumentieren zu können.
Die Verkehrsplanung in der Stadt Zürich ist schon lange unter linker politischer Führung. Warum ist trotzdem zu wenig gegangen?
In der Gemeinschaft der Leute, die Verkehr planen, gibt es häufig ein top-down-Verständnis. Man geht zu wenig auf die Bedürfnisse der Menschen ein. Langsam wandelt sich das und Partizipation wird wichtiger. Das Mindset muss sich aber noch ändern. Da gibt es noch viel Spielraum.
Welches Mindset sprechen Sie konkret an? Die Autozentriertheit?
Das ist sicher ein Punkt. Die Sihlhochstrasse in Zürich ist das beste Beispiel. Da wurde ein wertvoller Naturraum zerstört. In US-Städten sieht man, was teilweise für grässliche Schneisen für den Autoverkehr geschlagen wurden. Dass das Autobahn-Y in der Stadt Zürich vor 50 Jahren verhindert wurde, können wir den damaligen Gegnern nicht hoch genug anrechnen. Heute wird aber teils die gleiche Verkehrsplanung gemacht. Man baut Autobahnen aus, welche die Zersiedlung fördern, um Kapazitäten zu schaffen.
Wie müsste Verkehrsplanung in der Stadt denn idealerweise aussehen?
Eine Stadt zu planen ist schwierig. Man kann ja nicht einfach eine Zeile Häuser abreissen. Ideale Lösungen dürften situativ überall anders sein. Am einen Ort können Lösungen erzielt werden, ohne dass man einem Verkehrsmittel Platz wegnimmt. Wenn solche Lösungen nicht umgesetzt werden, ist das frustrierend. Wenn es aber Platzkonkurrenz gibt, muss der MIV überall in Frage gestellt werden.
Welche Lösungen gäbe es denn, ohne dass einem Verkehrsmittel Platz weggenommen wird?
Das beste Beispiel ist, dass man heute sehr häufig Farbe benutzt, um Velostreifen einzuzeichnen. Dabei würde ein Veloweg mit abgesetztem Randstein gar nicht mehr Platz brauchen. Auch kaum verständlich ist, wenn ein 2-Meter-Parkplatz ersetzt wird mit einem 1,5-Meter-Veloweg.
Hat sich diesbezüglich etwas geändert?
Es gibt schon Versuche. Aber wenn ich sehe, was dann an Plänen aufgelegt wird, ist das Verbesserungspotenzial noch gross. Bei Strassensanierungen reden zu viele Leute mit. Dann wird es für niemanden richtig gut.
Welche Lösungen schweben ihnen vor?
In Barcelona gibt es die autofreien Blocks. Ein Teil wird für Autos geschlossen. Das wäre in Zürich auch möglich. Wir haben eine ähnliche Bebauung vor allem im Kreis 4 und 5 mit vielen Blockrandbebauungen, die ähnlich organisiert werden könnten. Wenn man wiederum die Verkehrsprobleme um das Seebecken anschaut, wird klar: Ohne Reduktion des Autoverkehr wird es nicht gehen.
Welche Rolle kann Tempo 30 spielen?
Mit Tempo 30 müssen die Strassen für Autos weniger breit sein, es gibt weniger Lärm und weniger Unfälle. Brüssel hat vor einem Jahr flächendeckend Tempo 30 eingeführt und nun eine äusserst positive Bilanz gezogen. Für eine Stadt ist das ein riesiger Mehrwert. Aber: Auf die Kapazität wird Tempo 30 keine riesige Auswirkung haben, und auch die Attraktivität des Autos wird es kaum schmälern. Am Steuer eines Autos fühlt sich Tempo 30 für viele langsam an, aber die Reisezeiten verändern sich nur sehr geringfügig. Das Auto bleibt auch bei Tempo 30 wahnsinnig bequem.
Sind denn das Velofahren und der ÖV zu wenig bequem?
Ich glaube nicht, dass es Sinn macht, die Stärken des Autos auf andere Verkehrsmittel übertragen zu wollen. Die haben andere Vorteile. Der ÖV hat den Vorteil, dass man während einer Fahrt andere Sachen machen kann, die Bewegung mit dem Velo fördert das Wohlbefinden. Die grosse Frage allerdings ist: Was passiert, wenn Autos jemals autonom werden? Dann hat der ÖV ein Problem, weil sein grosser Vorteil keiner mehr ist im Vergleich zum Auto.
Was halten Sie davon, dass es Parkplätze nur noch in Parkhäusern geben soll, die am Rand der Quartiere stehen? So würde der Weg zum Auto automatisch unbequemer …
Solche Ideen sind sehr relevant. Wir müssen uns in die Menschen versetzen, die das Auto nutzen und uns fragen: Wie treffen sie ihre Entscheide? Viele haben einen Super-Zugang zur eigenen Tiefgarage. Beim ÖV muss man hingegen schon mal zur Haltestelle kommen. Beim Velo ist es auch so, dass man häufig einen unbequemeren Unterstand hat oder das Velo sogar noch über eine Treppe tragen muss. Das Beste aber ist nach wie vor, so wenige Parkplätze wie wenig zu bauen. Denn diese generieren den Verkehr effektiv.
Wer soll dann entscheiden, wer einen Parkplatz erhält?
Es gibt den zentralistischen Ansatz: Alle, die einen wollen, müssen sich auf einen Parkplatz bewerben – wie bei der Wohnungsbewerbung. Die Verwaltung würde dann je nach individueller Situation, etwa der Art des Jobs oder der Arbeitszeiten, eine Selektion treffen. Die asoziale Variante wäre die Steuerung über den Preis. Das ist wahrscheinlich nicht optimal, da die Jobs in den Randstunden oft eher tiefere Einkommen aufweisen. Der Autobesitz korreliert heute schon sehr stark mit dem Einkommen, in Zürich gibt es am Zürichberg die meisten Autos. Nicht schlecht finde ich das Bieler Modell, das nun auch in Zürich eingeführt wird: Einen Parkplatz auf öffentlichem Grund darf man nur noch beanspruchen, wenn es keine privaten in der Nähe gibt.
Das Auto ist nicht nur einfach bequem. Es gibt beispielsweise auch Frauen, die im ÖV Übergriffe erlebt haben und sich dort deshalb nicht mehr sicher fühlen.
Das ist ein gesellschaftliches Problem. Die Aggressionen haben generell zugenommen. Es ist eine Aufgabe für uns alle, ein Klima zu schaffen, in dem sich alle wohl fühlen. Wenn es besonders gefährdete Leute gibt, muss man deren Schutz hoch gewichten. Es bräuchte übrigens auch keine abgetrennten Velowege, wenn wir es schaffen würden, friedlich und rücksichtsvoll miteinander zu leben …
Wenn es um Tempo 30 oder Velowege geht, wird häufig das Argument vorgebracht, dass darunter auch der ÖV leidet. Halten Sie das für plausibel?
Es ist schwierig zu ermitteln, wie gross das Problem wirklich ist. Generell ist der ÖV hierzulande sehr stark, was uns in Sachen Mobilität einen grossen Vorteil auf andere Länder gibt. Das sollte man nicht aufs Spiel setzen. Gleichzeitig wächst der ÖV nur noch marginal. Wer ihn jetzt nicht benützt, lässt sich offensichtlich auch nicht mehr von ihm überzeugen. Trotzdem wollen wir, dass mehr Leute vom Auto wegkommen. Ihnen müssen wir ein Angebot machen, das vielleicht eher in Richtung Mikromobilität geht. Das braucht Veloinfrastruktur – und die braucht Platz, der in Einzelfällen auch vom ÖV kommen kann. Es gibt auch positive Beispiele, etwa die Weinbergstrasse in Zürich. Dort teilen sich neu Trams und der MIV eine Spur, ohne dass es den ÖV behindert – und dafür konnte ein Velostreifen geschaffen werden.
Anderswo scheint beides nicht zu gehen, ÖV und Veloweg – etwa an der Badenerstrasse beim Albisriederplatz.
Dort hätte man sich überlegen müssen, ob wirklich die Autos in beide Richtungen verkehren müssen. Es hat ja teils nicht einmal für einen 1,5-Meter-Velostreifen gereicht.
Welche Rolle spielen Daten bei der Verkehrswende?
Das Thema Daten fasziniert mich. Aber wir können die Zukunft nicht planen. Wir können verstehen, was passiert ist und vielleicht auch wieso. Daten sind ein Archiv, aus dem wir lernen können, aber die Zukunft soll nicht aus ihnen generiert werden, sonst gibt es einfach mehr vom Bisherigen. Daten können aber auch für anderes genutzt werden. In den Niederlanden können teils etwa Ampeln via Apps gesteuert werden, was Sensoren ersetzt.
Muss der ÖV seinen Vertrieb öffnen, damit auch Apps entstehen, mit denen auch wirklich alle Dienste vom ÖV bis zum E-Scooter gebucht werden können?
Es wird sehr viel investiert in MaaS-Plattformen. Ich bin mir aber nicht sicher, wo sie die Mobilität gross beeinflussen können. Mein Verhalten spielt sich ein und als Mensch bin ich zu faul, meine Mobilität jeden Tag neu zu planen. Solche Apps sind wertvoll, wenn man an Orten ist, an denen man sich nicht auskennt. Das eingespielte Pendlerverhalten können sie wohl kaum verändern. Die Vertriebskanäle sind jetzt natürlich noch eine geschützte Einkommensquelle für ÖV-Betriebe. Ich bin sicher, dass die irgendwann geöffnet werden.
Sie plädieren fürs Velofahren. Das Velo ist aber immer noch saisonalen Schwankungen unterworfen. Wird sich das je ändern?
Eine Stärke vom Velo ist es draussen zu sein, und etwas für die Gesundheit zu tun. An kalten Wintertagen verschiebt sich die Verkehrsmittelwahl deshalb zum ÖV. Das wird zu einem gewissen Grad bleiben, aber die Unterschiede sind nicht mehr so riesig – und zwischen den Jahreszeiten deutlich kleiner als etwa bei E-Scootern. Wir sehen an den nordischen Städten, dass mit guter Infrastruktur aber das Velofahren auch im Winter attraktiv sein kann.
Mit der Elektrifizierung des Verkehrs stellt sich die Frage, ob Autofahren überhaupt so schlimm ist. Wie sehen sie das?
Global gesehen wird das Problem der Emissionen mit der Elektrifizierung einfach verlagert, und das Platzproblem in unseren Städten besteht weiterhin. Ein Teil des Problems – schädliche Emissionen wie Feinstaub oder Gestank in den Städten – kann mit Elektromobilität reduziert werden. Der Platzverbrauch ist aber immer noch enorm.
Müsste man die Grösse der Autos besteuern?
Lenkungsabgaben müssen häufig sehr hoch sein. 12 Rappen Benzinpreis-Erhöhung wie beim CO2-Gesetz geplant hätten wohl kaum eine Lenkungswirkung gehabt. Wir dürfen nicht vergessen: Das Auto ist auch ein Statussymbol – und die Zahlungsbereitschaft hoch.
Wie kann auch das Velo zum Statussymbol werden?
Das ist es doch längst – zumindest in gewissen Kreisen. Ich bin mir auch sicher, dass es viele Menschen gibt, die in der Garage neben ihrem teuren Auto auch ein paar edle Velos parkieren.
Thomas Hug verbindet in seinen Tätigkeiten Mobilität, Raum und Mensch. Als Verkehrsplaner mitbegründete er das integrierte Planungsbüro urbanista.ch, das wir interdisziplinäre Planung abseits der scharfen Grenzen der Raum- und Verkehrsplanung umzusetzen probiert. Als Referent und Mitinitiator von verschiedenen Projekten erarbeitet er Lösungen, wie sich Menschen von der Verkehrswende überzeugen lassen können.
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