Der Verkehrsexperte Thomas Hug hat mit seinem Projekt Velobserver den Deutschen Mobilitätspreis gewonnen. Im Interview sagt er, warum das Zürcher Velonetz von den Nutzern schlecht bewertet wird, wieso trotz tödlicher Velo-Unfälle kaum etwas passiert und warum der ÖV für die Privilegien des Autos missbraucht wird.
von Stefan Ehrbar
6. Dezember 2022
Herr Hug, das Projekt Velobserver hat eben den Deutschen Mobilitätspreis gewonnen. Was bedeutet das für die Weiterentwicklung?
Der Preis bringt uns vor allem Anerkennung für die Arbeit, die wir bisher geleistet haben. Die Bedeutung des Velos und einer sicheren Infrastruktur dafür wird auch von der internationalen Mobilitätscommunity beachtet. Dieser Rückhalt hilft uns bei der Weiterentwicklung insbesondere im Gespräch mit neuen Städten – denn dies ist unser nächstes Ziel: Die Qualität der Veloinfrastrukturen soll auch in anderen Städten transparent gemacht werden.
Auf der Website des Preises heisst es zu Velobserver: «Um das nachhaltige Verkehrsmittel zukunftsorientiert zu fördern, ist es notwendig, den Fokus des Infrastrukturbaus konsequent auf die gefühlte und subjektive Sicherheit zu legen». Wie hat sich diese gefühlte Sicherheit in den letzten Monaten in der Stadt Zürich verändert?
Die grossen Würfe sehen wir noch nicht, aber es gibt einige spannende Veränderungen: So wurde die Zollstrasse nach dem Umbau auf VelObserver deutlich besser bewertet – allerdings gibt es auch da noch Luft nach oben. Bei der Hardturmstrasse, wo die Stadt mit neuen Führungsformen experimentiert, war allerdings kaum eine Veränderung sichtbar.
Auf der Velobserver-Seite steht: «Wir bündeln Eure Stimmen und sorgen dafür, dass die Stadtverwaltung sie hören wird. Versprochen». Konnte Velobserver dieses Versprechen einhalten?
Definitiv – wie viele andere Städte hat sich auch Zürich dazu bekannt, die gefühlte Sicherhheit der Veloinfrastrukturen zu verbessern. Das Problem ist nur: So richtig messen kann das niemand. Deshalb ist VelObserver aktuell eines der einzigen Mittel, die eine Evaluation der gefühlten Sicherheit langfristig zulassen. Und VelObserver kann eine solche Evaluation nur wirkungsvoll erbringen, gemeinsam mit den Stimmen der Bevölkerung.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der Stadt?
Kürzlich haben wir vom Bundesamt für Energie eine Förderung erhalten, um VelObserver weiter zu entwickeln. Das Ziel dabei ist, VelObserver auch zu einem Werkzeug für Städte zu machen, das sie in ihren Aufgaben untersützt. Im Rahmen dieser Weiterentwicklung werden wir mit verschiedenen Städten zusammenarbeiten, um ihre Bedürfnisse aufzunehmen. Auch die Zusammenarbeit mit der Stadt Zürich wird im Laufe dieses Prozesses intensiviert.
Konnten schon Strecken/Abschnitte konkret dank den Velobserver-Rückmeldungen verbessert werden? Wenn ja: Welche?
Als Monitoring-Instrument versucht VelObserver nicht sofortige Verbesserungen einzuleiten, sondern die langfristige Entwicklung der Qualität transparent darzulegen. Hier unterscheiden wir uns auch von Bikeable, das viel stärker auf punktuelle Mängelmeldung fokussiert. Wir sehen aber, dass die Stadt die Rückmeldung von Bikeable intensiv bewirtschaftet, was uns sehr freut.
Zurzeit wird das Vorzugsroutennetz bewertet. Der überwiegende Teil wird mit «knapp vorbei» oder «ungenügend» bewertet. Woran liegt das? Welche Kritikpunkte sorgen am häufigsten für eine schlechte Bewertung?
VelObserver ist ein Abbild eines subjektiven Eindrucks. Wir fragen nicht nach rationalen Kriterien, weshalb sich jemand unsicher fühlt. Ein Gefühl rational begründen zu müssen hat sich in der Testphase als schwierig erwiesen für die Nutzer:innen. Es scheint aber, dass das Auto eine zentrale Rolle spielt beim Unsicherheitsgefühl, denn die meisten gut bewerteten Strecken sind oft autofrei oder verfügen über einen klar abgegrenzten Veloweg.
Ist das Vorzugsroutennetz aus dieser Perspektive bereits gescheitert?
Keinesfalls – das Vorzugsroutennetz ist eine Planung, die erst in den kommenden Jahren ihre volle Wirkung entfalten wird. Dieses Netz sollte konsequent so umgesetzt werden, damit die Leute sich durchgehend darauf sicher fühlen können. Gelingt dies, wird dieses Vorzugsroutennetz uns noch viel Freude bereiten.
Ist eine Ausdehnung von Velobserver auf weitere Städte geplant? Wenn ja: welche?
Wir sind mit verschiedenen Städten im Gespräch – ein paar wenige teilen dabei unsere Vorstellung nicht, dass sie ihr Tun an dem Eindruck der Bevölkerung messen sollten. Viele andere sind aber mit uns einverstanden, dass die subjektive Sicherheit mehr Gewicht erhalten sollen. Mit diesen laufen Gespräche und teilweise bereits Vertragsverhandlungen. Die entsprechenden Städte werden wir kommunizieren, sobald der Prozess weiter fortgeschritten ist.
Sind auch schon Städte oder Kantone auf Sie zugekommen?
Ja, wir erhalten Kontaktanfragen von Städten und Kantonen. Auch aus Deutschland haben wir erste Anfragen erhalten – allerdings werden wir uns vorerst auf die Schweiz konzentrieren und hier Schritt für Schritt vorangehen.
Zuletzt hat ein Unfall, bei dem eine Velofahrerin in Zürich von einem rechtsabbiegenden Lkw tödlich verletzt wurde, für Kritik an der Veloinfrastruktur gesorgt. Wie könnten solche Vorfälle verhindert werden?
Diese Unfälle berühren mich auch persönlich stark. Der Tod eines jungen Menschen betrifft oft sehr viele Personen weit über deren Umfeld hinaus. Ich finde die Debatte anhand konkreter Unfälle deshalb schwierig – viel mehr sollten wir uns ganz generell die Frage, weshalb wir es akzeptieren, dass sich vulnerable Verkehrsteilnehmer:innen auf der gleichen Fahrbahn fortbewegen müssen wie LKWs. Und hier sehe ich aktuell kein Umdenken, obwohl das die zentrale Stellschraube gegen solche Unfälle wäre.
In einem Interview mit tsri.ch haben Sie gesagt, am Beispiel der Badenerstrasse in Zürich könne man sich fragen, ob das Tram immer unabhängig vom Auto sein müsse. Es scheint, als bewege sich die Diskussion zusehends in eine Richtung, in der auch Privilegien des ÖV wie Eigentrasse kritisiert werden oder deren Aufhebung zugunsten des Velos gefordert wird. Teilen Sie diese Einschätzung?
Als Zürcher bin ich stolz auf unseren ÖV. Die Zürcher Priorisierung der Trams bestaunen auch heute noch Verkehrsplaner:innen aus der ganzen Welt. Aber der ÖV wird immer mehr dafür missbraucht, Privilegien des Autos zu erhalten. Wir beobachten dies bei Tempo 30, bei der Diskussion um die Critical Mass oder auch bei den erwähnten Mischflächen, die heute kategorisch ausgeschlossen werden. Bei all diesen Punkten geht es letzten Endes um die Privilegien des Autos, nicht um den ÖV.
Mischflächen Tram/Auto verlangsamen meist nicht die Tram, sondern die Autos – weil diese hinter der Tram herfahren müssen. Und wenn dieses Prinzip schlau eingesetzt wird, ändert sich an der Fahrzeit wenig. Dies konnte auch kürzlich an der Weinbergstrasse beim Central beobachtet werden, wo Tram- und Autospur zugunsten eines breiten Velostreifens zusammengelegt wurden. Wir können uns diese Ineffizienz im knappen Strassenraum schlicht nicht standardmässig leisten.
Der ÖV ist in Zürich, aber auch in anderen Schweizer Städten – das meistgenutzte Verkehrsmittel der Stadtbevölkerung. Müsste er nicht eher mehr Platz erhalten als heute?
Der ÖV wird in der Stadt Zürich nur unter enormen Anstrengungen den Anteil am Modalsplit noch weiter steigern können. Zürich ist bereits nah am Optimum und weitere Ausbauten werden grosse Kosten verursachen für einen geringen Mode-Shift. Ausbauten in Zukunft werden eher dafür sorgen, dass der ÖV seine Anteile halten kann. Die weitere Verkehrswende wird in Zürich aber primär durch die aktive Mobilität getrieben. In Städten und Agglomerationen mit weniger gut ausgebauten ÖV ist die Ausgangslage aber eine andere.
Sie plädieren auch für flächendeckendes Tempo 30 und argumentieren, der ÖV leide darunter nicht. Das sehen aber Betroffene anders – etwa der ZVV oder Litra, aber auch die Stadt Zürich, die so viele Eigentrassen wie möglich bauen will. Wer hat recht?
Die Frage ist, was wir unter «leiden» verstehen. Der ZVV und Litra sprechen primär von den Kosten. Es ist klar, dass gewisse Mehrkosten entstehen durch Tempo 30. Doch diese Mehrkosten stehen in keinem Vergleich zu den Kosten, die durch die täglichen Autostaus verursacht werden. Zudem sind die Mehrkosten für T30 gemessen an den Gesamtkosten des ÖVs marginal.
Oft diskutiert wird auch, ob die entstehenden Zeitverluste die Attraktivität des ÖV schmälern. Die Antwort lässt sich nur vermuten. Für mich sprechen zwei Gründe dagegen: Einerseits wird die Fahrzeit im ÖV als relativ unbedeutend wahrgenommen. Die Wartezeit auf ein Tram wird beispielsweise 3 Mal schlimmer beurteilt als die Fahrzeit – wenn man Mal im Tram sitzt, spielen ein paar Sekunden oder Minuten kaum eine Rolle. Der zweite Grund: Die Tram soll primär das Auto konkurrenzieren – da auch die Autos etwas langsamer werden, bleibt hier der Vergleich etwa erhalten.
Ein Beispiel hatte kürzlich auch gezeigt, dass der Kanton Zürich nicht immer mit gleichen Ellen misst: Ein Projekt für intelligente Ampeln wurde kürzlich abgebrochen, weil nur wenige Sekunden eingespart werden konnten. Die Sekundenverluste auf einzelnen Tempo 30-Abschnitten werden für den ÖV aber als schwerwiegend beurteilt.
Das Velo und der ÖV waren lange so etwas wie natürliche Verbündete. Das scheint sich nun aufzulösen. Sehen Sie hier ein Problem für die politische Mehrheitsbeschaffung?
In Deutschland werden die ökologischen Verkehrsmittel schon lange als Umweltverbund bezeichnet. In der Schweiz haben wir diesen Umweltverbund aber lange nur im ÖV gesehen und das Velo vernachlässigt. Doch von einer starken Veloinfrastruktur profitiert auch der ÖV, denn wer mit dem Velo unterwegs ist, fährt auch mehr ÖV – die beiden Verkehrsmittel ergänzen sich optimal. Wenn wir nun auch das Velo und den Fussverkehr weiter stärken, erhalten wir eines der nachhaltigsten Verkehrssysteme der Welt.
Noch immer entscheiden sich auch in Zürich die meisten Paare mit der Ankunft eines Kindes für ein Auto. Woran liegt das aus ihrer Sicht?
Es zeigt sich oft, dass in solchen «moments of truth» Entscheidungen gefällt werden, die das Mobilitätsverhalten langfristig verändern. Das ist völlig legitim. Oft werden Wochenendausflüge oder Ferien genannt, die mit Kindern und Gepäck im ÖV nicht einfach sind. Und ein Carsharing-Angebot regelmässig zu nutzen wäre dann für viele doch auch zu teuer. Einerseits scheinen die vorhandenen Angebote also nicht attraktiv genug zu sein als Alternative.
Andererseits kann der Kauf eines Autos selbst mit Push-Massnahmen unattraktiver werden. So ist der grösste Faktor überhaupt, ob man sich ein Auto zulegt, die Verfügbarkeit eines Parkplatzes. Wenn kein Parkplatz zur Verfügung steht, kauft man sich kein Auto. Das klingt logisch und wird auch in wissenschaftlichen Studien immer wieder nachgewiesen.
Nicht alle Wege kann ein Velo oder E-Bike ersetzen. Wer z.B. auf die Kinderbetreuung durch die Grosseltern angewiesen ist, die auf dem Land leben, greift häufig zum Auto. Wie lässt sich dieses Dilemma – Wunsch nach autofreier Stadt, aber Komfortgewinn für Autobesitzer – lösen? Braucht es z.B. eine Pflicht für private Parkplätze, Quartier-Parkhäuser oder teurere Parkplätze?
Gerade Grosseltern sind ein gutes Beispiel. Ab einem gewissen Alter ist es sicherer, wenn diese auf das Auto verzichten. Doch wenn es keine anderen Angebote gibt, die sie nutzen können, werden sie faktisch vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, wenn sie kein Auto mehr fahren. Das ist eine unglaubliche Abwägung, die man machen muss: Entweder sich selbst und andere gefährden, indem weiter Auto gefahren wird – oder vom Sozialleben ausgeschlossen werden. Ich erachte das als Aufgabe unserer Gesellschaft, dass sich diese Frage eigentlich nicht stellen sollte: Wer auf das Auto verzichten will, soll dies auch können.
Dass gerade in der Agglomeration das Auto dominierend ist, liegt letzten Endes auch an deren Entstehung: Die Agglomeration wurde für das Auto gebaut. Es gibt viele Tiefgaragen, die Strassenräume sind breit angelegt, die Siedlungen nicht besonders dicht. Dem können wir nur sehr langfristig entgegenwirken. Das bedeutet einerseits, dass neue Angebote geschaffen werden. Dies können bewährte Verkehrsmittel wie der ÖV oder attraktive Velorouten sein, aber auch On-Demand-Angebote oder Carsharing können helfen, die Abhängigkeit vom eigenen Auto zu reduzieren. Andererseits bedeutet es aber auch, dass die kurzen Wege in der Agglomeration wieder attraktiver werden sollten, indem die täglichen Besorgungen in Fussdistanz möglich sind. Hieran zeigt sich exemplarisch, wie wichtig die Schnittstelle von Raum- und Verkehrsplanung für die Verkehrswende ist.
Ich fahre täglich Velo in der Stadt Zürich. Der Hass gewisser Busfahrer auf Velofahrer ist spürbar und teilweise gefährlich.