
Die Stadt Zürich plant eine grosse Tempo-30-Offensive. Bürgerliche Politiker sehen darin eine Gefahr für das Gewerbe. Die Stadt Zürich beschwichtigt: Von tieferen Geschwindigkeiten profitierten die Läden sogar. Doch stimmt das auch – und welche Folgen haben die tieferen Geschwindigkeiten für die Lieferanten?
von Stefan Ehrbar
16. Oktober 2023
Auf 150 Kilometern Strassen will die Stadt Zürich zusätzlich zu bestehenden Tempo-30-Abschnitten das tiefere Tempolimit einführen. Das gab sie im Dezember 2021 bekannt. Das Vorhaben läuft unter dem Titel der dritten Etappe der Strassenlärmsanierung. Denn Tempo 30 verringert den Lärmpegel. Die Stadt will mit den Massnahmen tagsüber 48’000 Personen und nachts 95’000 Personen von einer Lärmreduktion profitieren lassen. Die Lärmsanierung ist eine gesetzliche Aufgabe aller Gemeinden in der Schweiz.
Auch in der Stadt Zürich sind noch immer 140’000 Menschen von übermässigem Strassenlärm betroffen. Sie müssen gemäss dem Umweltschutzgesetz und der Lärmschutzverordnung des Bundes besser geschützt werden. Doch gegen das relativ einfach umzusetzende und kostengünstige Mittel von Tempo 30 gibt es erbitterten Widerstand.
So werden etwa im Kanton Zürich derzeit Unterschriften für zwei Initiativen gesammelt, die Tempo 30 auf Hauptstrassen verbieten respektive nur in Ausnahmefällen ermöglichen wollen. Sie sehen zudem vor, dass Mehrkosten etwa für den ÖV von der jeweiligen Gemeinde bezahlt werden müssten. Besonders bürgerliche Politiker, aber auch der TCS betätigen sich im Umfeld dieser Initiativen.
Neben dem Argument der Kapazitätsreduktion und der Verlangsamung des Verkehrs wird oft auch behauptet, unter Tempo 30 leide das Gewerbe: Die Strassen seien für Handwerker, Lieferanten und Ladenbetreiber häufiger verstopft – und wenn Lieferungen länger dauern, würden diese auch teurer.
Was ist daran an diesen Behauptungen? Eine Antwort liefert die Stadt Zürich in einer kürzlich veröffentlichten Antwort auf eine Anfrage von zwei Gemeinderäten der SVP und der FDP.
Die Stadt verweist zunächst auf eine Querschnittsanalyse von 35 Standorten, an denen das Tiefbauamt im Jahr 2011 untersucht hat, wie sich Verkehrsberuhigungen auf den Branchemix und die Wertschöpfung auswirken.
«Die Studie kommt zum Schluss, dass die Lage und die Ausgestaltung der Strasse den Branchenmix bestimmen, da sie einen wesentlichen Einfluss auf die Erschliessungs- und Aufenthaltsqualität der Strasse haben. Je verkehrsberuhigter die Strasse, desto höher ist der Anteil der publikumsorientierten Branchen», heisst es dort. «Die Studie legt dar, dass an verkehrsberuhigten Strassen im innerstädtischen Bereich die Wertschöpfung im Detailhandel und im Gastgewerbe allgemein höher ausfällt als an Strassen, die eine starke Verkehrsorientierung aufweisen. Dieser Zusammenhang wird der höheren Fussgängerfrequenz zugeschrieben. Daneben werden eine zentrumsnahe Lage und eine gute ÖV-Erschliessung als wertschöpfungstreibend nachgewiesen.»
Ein 2019 publizierter Forschungsbericht der Schweizerischen Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten (SVI) bestätige die Aussagen dieser Studie. «Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass Tempo-30-Zonen gesamthaft über alle Branchengruppen hinweg keinen relevanten bzw. einen weitgehend neutralen Effekt haben. Die Branchengruppe «Industrie» (Industrie, produzierendes Gewerbe und Logistik) scheint von Tempo30-Zonen eher negativ betroffen zu sein. Doch insbesondere in grossstädtischen Kerngemeinden werden diese Auswirkungen kompensiert durch die positive Entwicklung im Sinne einer Zunahme der Beschäftigung in den publikumsorientierten Branchengruppen «Gastgewerbe» (Gastgewerbe und Unterhaltung) und «Detailhandel» (Detailhandel, Post, Telekommunikation und Kleinhandwerk) sowie der Branchengruppe «Finanz & Versicherungen» (Finanz, Versicherung und weitere Bürodienstleistungen). Die Beschäftigungseffekte von Tempo-30-Zonen sind insgesamt gering und gleichen sich über die Branchengruppen hinweg aus.»
Unter dem Strich habe die Einführung von Tempo 30 keinen respektive einen untergeordneten und wenn, eher einen positiven Einfluss auf das Gewerbe. Mit finanziellen Einbussen müsse dies deshalb nicht rechnen.
Auf eine Umfrage beim Gewerbe habe die Stadt verzichtet. Die Wirkung von Tempo 30 werde erfahrungsgemäss prospektiv überschätzt. Tatsächlich zeigt sich etwa bei Umfragen unter Gewerbetreibenden zu autofreien Zonen und Parkplätzen, dass diese tendenziell überschätzen, wie weit her ihre Kundschaft kommt und wie negativ sich das Fehlen von Parkplätzen auf ihr Geschäft auswirkt (Mobimag berichtete).
Eine Studie in deutschen Städten zeigte etwa, dass Händlerinnen und Händler den Anteil der Kunden, die mit dem Auto kommen überschätzen: Wo sie ihn bei 22 Prozent vermuten, liegt er nur bei 7 Prozent. Diese Fehleinschätzung könnte laut den Forschern damit zusammenhangen, dass Händler von sich auf andere schliessen. Händler, die selber mit dem Auto zum Geschäft fahren, schätzen die Autonutzung ihrer Kunden höher ein, als sie tatsächlich ist.
Auch bezüglich verstopfter Strassen rechnet die Stadt Zürich nicht mit negativen Folgen ihrer Tempo-30-Offensive. «Die effektive Verlangsamung durch die Einführung von Tempo 30 kann nicht einer reinen Dreisatz-Rechnung mit Streckenlänge und Höchstgeschwindigkeit gleichgesetzt werden. Tempo 30 führt insbesondere innerorts auch zu einer Verstetigung des Verkehrsflusses», schreibt der Stadtrat. Die Leistungsfähigkeit einer Strasse werde innerorts massgeblich durch die Knoten und deren Steuerung, Vortrittsverhältnisse und Fussgängerstreifen beeinflusst. «Auf Streckenabschnitten innerorts liegt die maximale Leistungsfähigkeit üblicherweise bei 30 bis 35 km/h. Für ungeregelte Knoten und Rechtsvortritt nimmt die Leistungsfähigkeit mit abnehmenden Geschwindigkeiten der übergeordneten Ströme für die untergeordneten/vortrittsbelasteten Ströme zu.» Insgesamt sei davon auszugehen, «dass die Einführung von Tempo 30 auf die Kapazitäten des Strassennetzes keinen oder eher einen positiven Einfluss haben wird».
Auch die Erreichbarkeit werde nicht leiden: Die innerstädtischen Fahrgeschwindigkeiten seien heute schon gering, Tempo 30 werde die Reisezeiten innerhalb der Stadt «höchstens minim verlängern».
Ob dies allerdings in dieser Pauschalität stimmt, darüber lässt sich streiten. Als die Stadt Zürich etwa untersuchte, wie die Einführung von Tempo 30 sich auf den öffentlichen Verkehr auswirkt, wurden durchaus bemerkenswerte Verlangsamungen festgestellt (Mobimag berichtete). Auf einem 1,8 Kilometer langen Abschnitt auf der Strecke der Buslinie 46 in Wipkingen verlängerte sich die Fahrzeit der Busse nach Einführung von Tempo 30 um durchschnittlich 22 Prozent oder 44 Sekunden.
Was allerdings beim ÖV schnell grössere finanzielle Auswirkungen haben kann, weil mehr Fahrzeuge und Personal gebraucht werden, dürfte für den Lieferverkehr weniger relevant sein. Denn wenn dieser nicht gerade mehrmals täglich eine solche Strecke befährt, verliert ein Lieferant nur einmal täglich die Zeit. Dass diese Sekunden ins Gewicht fallen, ist wohl eher unwahrscheinlich.
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