An wem die Verkehrswende vorbeigeht // Werden Häfen mit Autos geflutet? // Verkehrsberuhigung dank Velostreifen

Paris gilt als Vorreiter der Verkehrswende. Bild: Eddie Junior/Unsplash

Die Verkehrswende ist das Lieblingsprojekt vieler grossstädtischer Politiker. Doch ökonomisch schwache Gruppen werden oft vergessen. Ausserdem im Blick aufs Ausland mit Links zu spannenden Geschichten: Immer mehr Autotransporte verstopfen die Häfen – und abgetrennte Velowege verringern die Geschwindigkeit von Autos.

von Stefan Ehrbar
3. Mai 2024

An wem die Verkehrswende vorbeigeht

Verkehrsberuhigung, Velowege und Parkplatzabbau gehören zur Standard-Politik in vielen Grossstädten. Als Vorbilder gefeiert werden häufig etwa Paris, Amsterdam oder Kopenhagen.

Doch diese Verkehrswende überzeugt nicht alle Milieus. Das zeigt ein Artikel des Portals klimareporter.de von dieser Woche. Er berichtet über ein Projekt im Berliner Stadtteil Kreuzberg zur Verkehrsberuhigung. Im November vergangenen Jahres kam demnach eine Frauengruppe zusammen, die sich bereit erklärt hatte, mit Forscherinnen die Verkehrswendemassnahmen und die Beteiligung der Bevölkerung zu diskutieren.

Im betreffenden Kiez wurden in den vergangenen Monaten Parkplätze abgebaut, Parkplatzflächen entsiegelt und zu Beeten umfunktioniert oder mit sogenannten Kiezterrassen für die Kitas ausgestattet. Zudem wurden Lade- und Lieferzonen für Car-, Bike- und E-Scooter-Sharing eingerichtet.

Die Massnahmen sorgten in der Gruppe, die sich stark aus migrantisch geprägten Frauen zusammensetzte, nicht für Begeisterung. Die Siedlung, aus der die Gruppe rekrutiert wurde, ist stark von einer türkisch-, arabisch- und kurdischsprachigen Gemeinschaft geprägt.

Besonders interessant seien die Antworten auf die Frage nach dem individuellen Mobilitätsverhalten gewesen, heisst es im Artikel «Einhellig wurde das Auto als das wichtigste Verkehrsmittel benannt. Dabei berichtete ein Grossteil der Frauen, sie seien oftmals zu Fuss oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, während der Ehemann das Auto zum Beispiel für die Arbeit nutze.»

Einige Teilnehmerinnen hätten davon erzählt, dass sie früher mehrere Autos gehabt hätten, sich dies aber nicht mehr leisten könnten. Gerade in grossen Familien benötige es das Auto etwa für Lebensmitteleinkäufe. Die begrenzte Verfügbarkeit eines Autos mache es schwierig, die täglichen Erledigungen zu schaffen und die eigene Arbeit zu stemmen.

Die Teilnehmerinnen berichten auch von einem Ungerechtigkeitsgefühl: Reiche Bewohner könnten es sich leisten, überall mit dem Velo hinzufahren. Sie aber hätten die Zeit für diesen Luxus nicht. «Zugleich würden genau diese Menschen, die im Alltag Fahrrad fahren, dann mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen», beklagten die Frauen gemäss dem Artikel. Ökonomisch schwächeren Haushalten werde ihre Autoaffinität vorgeworfen, während reichere Haushalte durch häufigeres Fliegen tatsächlich mehr Treibhausgase emittieren. Zahlen bestätigen tatsächlich, dass gut verdienende innerstädtische Milieus deutlich öfter fliegen als Haushalt mit geringerem sozioökonomischem Status.

«Das Auto dient den Teilnehmerinnen nicht nur als Transportmittel. Eher spiegelt es die komplexen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen wider, die diese Communitys prägen», heisst es im Text. «Die Diskussion zeigte Lebensrealitäten, die von denen der «grünen», oft soziodemografisch homogenen Blase der Befürworter:innen von Strassenraum-Umgestaltung deutlich abweichen. Oft sind diese Bevölkerungsgruppen – unter anderem aufgrund von Ungerechtigkeitsdynamiken – im Verkehrswende-Diskurs kaum vertreten und schwer zu erreichen.»

Werden die Häfen zu grossen Parkplätzen?

Die Zahl der Schiffe zum Autotransport wird in den nächsten Jahren steigen – und führt zu Problemen in den Häfen. Diese könnten mit Autos «überschwemmt werden» und die Überlastung der Terminals noch verschärfen.

Davor warnt laut der «Financial Times» Lasse Kristoffersen, der Vorstandsvorsitzende der norwegischen Firma Wallenius Wilhelmsen, der grössten Reederei für Autotransporte. Die Zeitung hatte berichtet, dass sich viele europäische Autoimportterminals nach einem starken Anstieg der Fahrzeugexporte aus China in überfüllte Parkplätze verwandelt haben. Dabei hat die Branche laut Kristoffersen noch nicht einmal die Kapazitäten, um alle Fahrzeuge zu verschiffen, die die Hersteller haben wollen.

«Wir sind nicht in der Lage, alle von unseren Kunden gewünschten Mengen zu befördern», wird er zitiert. In den letzten zehn Jahren habe die Kapazität für die Verschiffung von Autos stagniert, doch im vergangenen Jahr sei die Zahl der beförderten Fahrzeuge gegenüber dem Vorjahr um 17 Prozent gestiegen.

Damit seien fast alle verfügbaren Schiffe gefüllt worden. Als Reaktion darauf hätten die Betreiber 198 neue Schiffe in Auftrag gegeben, die bis Ende 2027 ausgeliefert werden sollen. Das hat die Beratungsfirma MSI errechnet. Damit wird die Kapazität um 42 Prozent erhöht.

Kristoffersen warnt nun davor, dass die Terminalbetreiber kaum im gleichen Mass die Kapazitäten in den Häfen erhöhen werden. Deshalb dürfte sich die Überlastung der Häfen noch verschärfen

Vor kurzem wurde bekannt, dass die Schweizer Reederei MSC ebenfalls eine grössere Investition in den Sektor tätigen will: Die Firma möchte für umgerechnet 693 Millionen US-Dollar die norwegische Reederei Gram Car Carriers mit 18 Schiffen für den Autotransport übernehmen.

Wie Velowege den Verkehr beruhigen

Vom übrigen Strassenverkehr abgetrennte Velowege gelten als die sicherste Form, das Velofahren zu fördern und bequem zu gestalten. Sie haben allerdings auch einen Einfluss auf die Geschwindigkeit der Autos und die Schwere von Unfällen.

Das zeigt eine neue Studie namens «The Traffic Calming Effect of Delineated Bicycle Lanes» von Forschern um Hannah Younes von der State University of New Jersey. Sie ist vor kurzem im «Journal of Urban Mobility» veröffentlicht worden.

Das Forscherteam hat mithilfe von Computer-Vision-Techniken die Geschwindigkeit und die Fahrbahn von über 9000 Autos an einer Kreuzung ausgewertet und analysiert. Die Kreuzung war Teil eines Versuchsprojekts für einen Velostreifen in der US-Stadt Asbury Park.

Die Wirkung eines durch Leitpfosten geschützten Velostreifens sei deutlich: Dieser habe die durchschnittliche Höchstgeschwindigkeit von nach rechts abbiegenden Fahrzeugen um 28 Prozent reduziert und die Durchschnittsgeschwindigkeit um 21 Prozent.

Bei geradeaus fahrenden Fahrzeugen wurde eine Verringerung der Geschwindigkeit um bis zu 8 Prozent registriert. Keinen Einfluss hatte der Velostreifen auf Fahrzeuge, die senkrecht zu ihm fahren. Dort wurde kein Geschwindigkeitsrückgang festgestellt.

Ein Velostreifen, der nicht durch Verkehrsleitkegel und Kunststoffleitpfosten abgetrennt war, hatte zwar ebenfalls einen beruhigenden Einfluss, aber einen weniger grossen: Dort wurde nur ein Rückgang der Geschwindigkeit um 11 bis 15 Prozent für rechts abbiegende Fahrzeuge festgestellt.

«Diese Ergebnisse deuten auf einen wichtigen sekundären Nutzen von Velospuren hin: Durch ihre verkehrsberuhigende Wirkung können abgegrenzte Velospuren das Risiko und die Schwere von Unfällen für Fussgänger und andere Verkehrsteilnehmer verringern», heisst es in der Studie.

«Sowohl die Durchschnitts- als auch die Höchstgeschwindigkeiten sind niedriger, wenn ein aufgemalter und abgegrenzter Veloweg für rechts abbiegende Fahrzeuge vorhanden ist», heisst es in der Studie. Der abgetrennte Veloweg scheine sich stärker auf die Höchstgeschwindigkeiten als auf die Durchschnittsgeschwindigkeiten auszuwirken, mit einer Verringerung der durchschnittlichen Höchstgeschwindigkeiten um 28 % im Vergleich zu einer Verringerung der Durchschnittsgeschwindigkeiten um 21 %.

Der lediglich aufgemalte Veloweg führe zu einer geringeren, aber immer noch statistisch signifikanten Verringerung der Spitzen- und Durchschnittsgeschwindigkeiten um 14 % bzw. 11 %. «Im Zusammenhang mit der Verkehrssicherheit und den Vision Zero-Initiativen ist dieses Ergebnis insofern von Bedeutung, als es darauf hindeutet, dass abgegrenzte Velostreifen die Verkehrsgeschwindigkeiten reduzieren können, wodurch die Strassenumgebung insgesamt für alle sicherer wird», so die Forscher.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diesen Artikel kommentieren