
«Wer Strassen sät, wird Verkehr ernten» ist ein Bonmot der Verkehrsplanung. Doch gilt auch das Gegenteil? Verschwindet Autoverkehr einfach, wenn Strassen abgebaut werden? Eine aktuelle Schweizer Arbeit geht dieser Frage nach. Sie kommt zum Schluss: Werden drei Faktoren berücksichtigt, ist das tatsächlich der Fall.
von Stefan Ehrbar
25. September 2023
Wenn Strassen ausgebaut werden, führt das zu mehr Nachfrage. Dies wird induzierter Verkehr genannt. Doch es gibt auch das gegenteilige Phänomen: Den negativ induzierten Verkehr. Eine Reduktion der Strassenkapazität kann zu einem Rückgang der Verkehrsnachfrage führen.
Doch wie muss Kapazität abgebaut werden, damit das auch tatsächlich eintrifft? Diese Frage ist äusserst relevant für Verkehrsplaner, Politiker und Städte. Denn wenn immer sie Strassen abbauen wollen – etwa, um Platz für den ÖV oder den Langsamverkehr zu schaffen – kämpfen sie gegen die Behauptung, damit werde Ausweichverkehr gefördert und es komme andernorts zu mehr Stau.
Welche Erfolgsfaktoren es bei Kapazitätsreduktionen gibt, die zu negativ induziertem Verkehr führen, hat der Raumentwickler Marc Vetterli für seine Masterarbeit an der Ostschweizer Fachhochschule nun untersucht.
Dass eine Reduktion der Strassenkapazität zu einer geringen Verkehrsnachfrage führe, sei seit 1998 aufgrund einer internationalen Studie bekannt. Man wisse aber wenig darüber, unter welchen Voraussetzungen dieser Effekt eintritt und welche Faktoren einen relevanten Einfluss haben, schreibt er.
In seiner Arbeit hat Vetterli zehn Schweizer Beispiele untersucht, bei denen temporär oder dauerhaft Strassenkapazitäten abgebaut wurden. Dazu gehören etwa der Limmatquai in Zürich, Spurabbauten auf der A1 bei St. Gallen während der derzeitigen Sanierung der Autobahn, die Halbierung der Kapazität auf der A9 während der Sanierung der Glion-Tunnels im Jahr 2000, die Sanierung der Hardbrücke in der Stadt Zürich während der Jahre 2009 bis 2011 oder die Sperrung der Bahnhofstrasse in Luzern im Jahr 2020. Die Analyse der Fälle zeigte laut Vetterli, dass es drei zentrale Erfolgsfaktoren gibt, die dazu führen, dass bei Kapazitätsreduktionen ein erheblicher Teil des Verkehrs verschwindet.
Es sind dies:
- Die Kapazität der Alternativrouten: Je weniger freie Kapazität auf alternativen Strassen zur Verfügung steht, desto eher führt ein Abbau von Strassenkapazitäten zu negativem induzierten Verkehr. Auch das Gegenteil stimmt: «Werden keine oder wenig attraktive Alternativen angeboten und sind freie Kapazitäten auf Alternativrouten verfügbar, so verlagert sich der Verkehr einfach auf diese Routen», schreibt Vetterli.
- Alternative Verkehrsmittel: Je besser alternative Verkehrsmittel verfügbar sind – also z.B. der ÖV oder Fuss- und Velowege – desto eher führt ein Abbau der Kapazität für Autos zu negativem induzierten Verkehr. «Wird die Kapazität für den Motorisierten Individualverkehr (MIV) reduziert und werden gleichzeitig atraktive Alternativen gschaffen, so führt dies langfristig zu einer Verkehrsabnahme des MIV über die Kapazitätsreduktion hinweg», heisst es in der Arbeit.
- Kommunikation: Die Art, der Zeitpunkt und die Intensität der Kommunikation über die Kapazitätsreduktion entscheiden darüber, wie sich Autofahrer entscheiden. Wenn die Verkehrsteilnehmer frühzeitig informiert werden, können sie sich vorbereiten und ihr Verhalten auf die Umsetzung hin anpassen.
«Werden die Erfolgsfaktoren konsequent angewendet, so führen die Kapazitätsreduktionen meist nicht zu Verkehrsbehinderungen», heisst es in der Arbeit. Der Nutzen von solchen Reduktionen übersteige die Kosten oft. Sie könnten eine effektive Möglichkeit sein, nachhaltige Mobilität zu ermöglichen.
«Nachfragereaktionen des Strassenverkehrs bei Kapazitätsreduktionen verhalten sich ähnlich wie bei Kapazitätserweiterungen», heisst es in der Arbeit. «Die Verkehrsteilnehmer nehmen nur ein gewisses Mass an Fahrzeitverlust und Verkehrsbehinderungen in Kauf. Nehmen die Verkehrsbehinderungen zu stark zu oder sind solche absehbar, wird das Verhalten angepasst.»
Internationale Studien hätten gezeigt, dass Verkehrsteilnehmer dann die Abfahrts- oder Ankunftszeit ändern, die Route ändern oder das Verkehrsmittel wechseln. Zudem werde ein Teil der Fahrten vermieden und insbesondere bei ungebunden Fahrtzwecken – etwa in der Freizeit oder zum Einkaufen – werde in einigen Fällen ein anderes Ziel gewählt. «Als Resultat führen die Verhaltensänderungen zu einer Verkehrsreduktion auf der betroffenen Strasse (negativ induzierter Verkehr). Die oft befürchteten Verkehrsbehinderungen treten in den allermeisten Fällen nicht ein.»
Vetterli macht auch auf die Beschränkungen der Erkenntnisse in der Praxis aufmerksam. Ohne die Weiterentwicklung des heutigen Planungssystems, in dem Verkehrswachstum nach wie vor oftmals mit Verkehrsausbauten bekämpft werde, könnten die zukünftigen Herausforderungen nicht gelöst werden. «Kapazitätsreduktionen können ein zentraler Schlüssel sein, um das Verkehrssystem langfristig nachhaltiger und finanziell tragbar zu gestalten. So dass in Zukunft mit weniger Strassen mehr Mobilität ermöglicht wird.»
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