Die staureichsten Städte der Welt // Gefährliche Verzögerung bei neuen EU-Grenzwerten // Behinderte fürchten die Verkehrswende

Ein häufiges Bild in London: Stau. Bild: Christian Lendl/Unsplash

Nirgends stehen Autofahrer so lang im Stau wie in London. Ist das schlimm? Ausserdem im wöchentlichen Blick aufs Ausland mit den Links zu spannenden Geschichten: Bei der Einführung neuer CO2-Grenzwerte in der EU könnte es zu einer folgenschweren Verzögerung kommen – und in Berlin fürchten sich Menschen mit Behinderung vor der Mobilitätswende.

von Stefan Ehrbar
13. Januar 2023

Das sind die Stau-Hotspots in Europa

«München ist erneut Stauhauptstadt», titelte die ARD-Tagesschau diese Woche mit Blick auf eine neue Auswertung des Daten- und Softwareunternehmens Inrix. Über 70 Stunden standen Autofahrer in der bayrischen Hauptstadt im vergangenen Jahr im Stau – Platz 1 in Deutschland. Auf Platz zwei folgte Berlin mit 71, auf Platz 3 Hamburg mit 56 Stunden.

In München ging die Zahl der Staustunden im Vergleich zum Vorjahr um fünf Stunden zurück, in anderen Städten stieg die Zahl wieder an. Im Jahr 2022 sei der traditionelle Pendlerverkehr morgens und am späten Nachmittag zurückgekehrt, wird Analyst Bob Pishue zitiert. Das Verkehrsaufkommen in Deutschland gemessen in Fahrzeugkilometern an Wochentagen sei um 21 Prozent gestiegen und 8 Prozent über dem Niveau von 2019 gelegen.

Im internationalen Vergleich sind die Staus in Deutschland allerdings vergleichsweise harmlos. In London – der staureichsten Stadt – verloren Autofahrer durchschnittlich 156 Stunden. Auf der Liste folgen Chicago mit 155 Stunden, Paris mit 138 Stunden und Boston mit 134 Stunden.

Europäische Städte gehörten zu den langsamsten der Welt, weil sie zu einem grossen Teil vor der Etablierung des Autos gebaut worden seien, begründen die Inrix-Forscher – was allerdings in Sachen Verkehrsplanung ein Vorteil gegenüber vielen Städten etwa in den USA sein dürfte, in denen den Bedürfnissen des Autoverkehrs vieles untergeordnet wurde.

Inrix hat für die «Global Traffic Scorecard 2022» den Verkehr in mehr als 1000 Städten in 50 Ländern untersucht und Stauschwerpunkte identifiziert. Auch hat Inrix Durchschnittsgeschwindigkeiten gemessen. In Palermo etwa kamen sie auf gerade einmal 14 Kilometer pro Stunde in der Innenstadt.

In der Schweiz führt Lugano die Rangliste an. Dort verloren Autofahrer im vergangenen Jahr 60 Stunden. Danach folgen Bellinzona mit 56 Stunden, Genf mit 53 Stunden, Zürich mit 50 Stunden und Basel mit 44 Stunden.

Gegenüber dem Jahr 2021 nahmen die Staustunden in Lugano im vergangenen Jahr um 29 Prozent ab. Gestiegen sind sie hingegen in Genf (+4%), in Basel (+5%), in Bellinzona (+6%) und in Zürich (+14%). Im Vergleich zu 2019 nahm die Zahl der Staustunden in Lugano um 33 Prozent ab. Zugenommen hat sie hingegen in Zürich (+1%), in Genf (+4%), in Bellinzona (+41%) und vor allem in Basel mit einer Zunahme von 64 Prozent.

Allerdings handelt es sich bei der Ermittlung von Staustunden nicht um eine exakte Wissenschaft. Verschiedene Anbieter kommen auf verschiedene Werte. Ebenfalls einen Index erstellt beispielsweise der GPS-Anbieter Tomtom. Im Tomtom Traffic Index werden auch die Emissionen, die in einer Stadt ausgestossen werden, angezeigt. Im Jahr 2021 waren im Tomtom-Ranking Genf und Zürich die Schweizer Stauhauptstädte mit je 69 Stunden, gefolgt von Lugano (66 Stunden), Lausanne und Basel mit je 55 Stunden und Bern mit 46 Stunden.

EU verzögert neue Grenzwerte

Bei der Überarbeitung der CO2-Normen für Lastwagen und Busse der EU könnte es zu einer grösseren Verzögerung kommen. Ursprünglich war die Veröffentlichung für November 2022 geplant, nun könnte es Mai werden. Das berichtet das International Council on Clean Transportation (ICCT).

Die ICCT-Experten warnen in einem Beitrag vor den Gefahren einer solchen Verzögerung. Denn obwohl Lastwagen und Busse nur etwa 2 Prozent aller Fahrzeuge ausmachen, emittierten sie mehr als ein Viertel der Treibhausgasemissionen im europäischen Strassenverkehr. Das entspreche 6 Prozent der Gesamtemissionen in der Europäischen Union.

Die derzeit gültigen Normen sehen eine Reduktion der Emissionen von Lastwagen um 30 Prozent bis 2030 vor. Für Busse gelten sie nicht. Das reicht laut den ICCT-Autoren nicht, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Hier sollten die neuen Normen ins Spiel kommen, mit denen die EU-Kommission Gegensteuer geben will.

Dass die Veröffentlichung gemäss der kürzlich veröffentlichten Agenda der Kommission um sechs Monate verschoben werden soll, möge zwar nicht nach viel aussehen, heisst es im ICCT-Artikel. Das sei aber eine «grosse Sache».

Denn sobald eine Überarbeitung von Normen vorgeschlagen wird, können das EU-Parlament und der EU-Rat Änderungsanträge einreichen. Die Kommission fungiert als eine Art Schiedsrichter. Die Anzahl der «Runden» ist nicht begrenzt, üblicherweise dauert das aber etwa ein Jahr. Nur: Wenn die neuen Normen erst im Mai veröffentlicht werden, liegen sie laut ICCT «gefährlich nah» am nächsten Wahlzyklus des Europäischen Parlaments, der für Mitte 2024 geplant ist. Das könne die Dinge verkomplizieren.

Denn die Gefahr bestehe, dass die Parlamentarier, die über Änderungen entscheiden, in der Hälfte des Prozesses ausgewechselt werden. Zwar sei es auch möglich, dass eine Einigung noch vor dem nächsten Jahr erzielt werde. Doch der Rat und das Parlament stünden unter erheblichem Druck. «Das Zeitfenster, um den Klimazusammenbruch zu verhindern, schliesst sich schnell, und jede Verzögerung bei der Umsetzung der Klimaschutzpolitik ist ein politisches Versagen», schreiben die ICCT-Experten.

Menschen mit Behinderung fürchten sich vor Verkehrswende

In Berlin gibt es immer mehr geschützte Velowege und weniger Autoparkplätze. Wie die «Berliner Zeitung» schreibt, betreffe das immer mehr Menschen, die nicht gut zu Fuss seien. Über das Thema hat am Mittwoch der Mobilitätsausschuss des Abgeordnetenhauses diskutiert.

Die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen Christine Braunert-Rümenapf sagte laut dem Artikel, sie bekomme immer mehr Anfragen, weil Behindertenparkplätze wegfielen und sich die Wege verlängerten. Das sei ein grosses Problem.

Sie erhalte immer häufiger Hinweise von Menschen, die bei ihrem Bezirksamt einen personengebundenen Behindertenparkplatz beantragt, aber nicht erhalten hätten. Auch die Zahl der allgemeinen Sonderparkplätze für schwerbehinderte Menschen sei nicht mehr ausreichend. Dass in manchen Bezirken wegen der Mobilitätswende die Autostellflächen verringert würden, treffe vor allem Gehbehinderte hart. Viele Menschen mit Behinderungen seien auf das Auto angewiesen. Dafür brauche es in der Politik mehr Sensibilität.

Auch Gerlinde Bendzuck von der Landesvereinigung Selbsthilfe Berlin stellt fest, dass es wegen immer mehr geschützten Velowegen für Menschen mit Behinderungen keine Halte- oder Parkplätze in Wohnungsnähe mehr gebe.

Die Zeitung zitiert den Nahverkehrsplan von Berlin, wonach sich 35 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner als in ihrer Mobilität beeinträchtigt definieren. Im vergangenen September habe es rund 146’000 Gehbehinderte gegeben.

Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass Länder die persönliche Mobilität mit grösstmöglicher Unabhängigkeit sicherstellen sollen. Diese Vorgabe gilt eigentlich seit letztem Jahr.

Doch die umfangreichen Gesetze und Planungen bildeten die Realität nicht ab, wird Bendzuck zitiert. Das gelte nicht nur für Parkplätze: Auch sechs S-Bahnhöfe in Berlin seien weiterhin nicht barrierefrei. Bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) könnten sogar 33 U-Bahnhöfe und 237 Tramhaltestellen nicht autonom benützt werden.

Laut dem Artikel liegt das zum Teil auch an der Bürokratie. Nur schon bis ein Lift in Betrieb genommen werden kann, vergingen im Durchschnitt sieben Jahre. 50 Behörden und Verbände dürften sich an den Verfahren beteiligen.

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