Der Zürcher ÖV erhält in einer europaweiten Befragung ein Top-Zeugnis – andere Aspekte der Verkehrspolitik nicht

Beim Fuss- und Veloverkehr hat Zürich Luft nach oben. Bild: Etienne Girardet/Unsplash

In keiner grösseren europäischen Stadt sind die Menschen so zufrieden mit dem öffentlichen Verkehr wie in Zürich. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass die Verkehrspolitik über alle Zweifel erhaben ist. Denn wenn es ums Velofahren und die Fussgänger geht, schneidet die grösste Schweizer Stadt deutlich schlechter ab. Das zeigt eine neue Studie.

von Stefan Ehrbar
18. März 2024

Alle paar Jahre lässt die EU-Kommission ermitteln, welche Stadt in Europa die höchste Lebensqualität aufweist. Dafür werden in ganz Europa repräsentative Befragungen unter den Einwohnerinnen und Einwohnern durchgeführt, die ihre Städte in mehreren Kategorien bewerten müssen.

Dieses Jahr wurden 71’153 Menschen in 83 Städten in der EU sowie in den EFTA-Ländern, in Grossbritannien, im Westbalkan und in der Türkei befragt. Als lebenswerteste Stadt wurde Zürich auserkoren. 97 Prozent der Befragten gaben an, gerne in der Stadt zu wohnen – ein Rekordwert. Die zweite untersuchte Schweizer Stadt Genf erreichte den Platz 7.

Zürich führte die Rangliste gleich in mehreren Kategorien an – etwa als beste Stadt für Menschen aus der LBTIQ-Gemeinschaft, als beste Stadt für ältere Menschen, als Stadt, in der die meisten Menschen zufrieden sind mit ihrer finanziellen Situation, als Stadt, in der die meisten Menschen zufrieden sind mit dem kulturellen Angebot und als Stadt, in der die meisten Menschen zufrieden sind mit dem öffentlichen Verkehr.

Ganze 95 Prozent der Befragten gaben an, zufrieden zu sein mit dem ÖV in Zürich. Auf Platz 2 folgte Wien mit 91 Prozent, auf Platz 3 Rotterdam mit 89 Prozent. Der Abstand zu diesen beiden war also relativ gross. Am anderen Ende der Rangliste rangieren Palermo, wo nur 22 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner zufrieden sind mit dem ÖV, Rom (29 Prozent) und das albanische Tirana (29 Prozent). Im Durchschnitt aller Städte wurde ein Wert von gut 69 Prozent erreicht.

Sind diese Werte Beweis für eine erfolgreiche Verkehrspolitik? Die Antwort lautet: Eher Nein. Denn während der ÖV sehr gut abschneidet, sieht es bei anderen umweltfreundlichen Verkehrsmitteln – namentlich dem Velo und dem zu Fuss gehen – anders aus, und beim Auto zeigt der Trend in die falsche Richtung.

Beim ÖV ist zwar die Zufriedenheit hoch, bei der Nutzung gehört Zürich aber nicht zur Spitzengruppe. Zwar nutzen etwa 55 Prozent den ÖV an einem typischen Tag und damit deutlich mehr als im Durchschnitt (43 Prozent). Doch der Unterschied zur Top 10 ist gross: In Prag nutzen 71 Prozent der Befragten den ÖV an einem typischen Tag, in Paris 62 Prozent, in Bukarest 61 Prozent.

Gar unter dem Durchschnitt schneidet Zürich beim Anteil der Befragten ab, die an einem durchschnittlichen Tag das Velo als Hauptverkehrsmittel nutzen. Im Durchschnitt aller Städte Europas sind es 14 Prozent, in Zürich 13 Prozent. Genf liegt mit 15 Prozent etwas über dem Durchschnitt. Besonders hoch ist der Velo-Anteil nicht überraschend im niederländischen Groningen (46%), in Amsterdam (39%) und Kopenhagen (35%). Danach folgen Rotterdam, Antwerpen und Aalborg. In die Top 10 schaffen es aber auch Graz und Hamburg. Besonders schlecht schneiden Rom (5%), Belgrad (6%) und Vilnius (6%) ab.

Eher überraschend ist  das vergleichsweise schlechte Abschneiden von Zürich beim Anteil der Menschen, die täglich zu Fuss unterwegs sind. Mit knapp 28 Prozent liegt die grösste Schweizer Stadt nur hauchdünn über dem europaweiten Schnitt von 27 Prozent. Am besten schneiden hier Paris (40%), Stockholm (38%) und Helsinki (36%) ab, am schlechtesten Istanbul (16%), Ankara (16%) und Antalya (18%). Immerhin hat der Anteil in Zürich seit der letzten Befragung im Jahr 2019 um etwa einen Prozentpunkt zugenommen.

In die Top 10 gehört Zürich hingegen in der Frage, wie viele Menschen das Auto als Hauptverkehrsmittel an einem durchschnittlichen Tag nutzen. In Zürich gaben nur 35 Prozent an, das sei der Fall. Durchschnittlich waren es in allen Städten 48 Prozent. Noch unter den Werten von Zürich liegen allerdings mit Stockholm (28 Prozent), Paris (31 Prozent), Groningen (33%) und Kopenhagen (34 Prozent) mehrere Städte vor allem aus dem Norden Europas. Fast gleichauf mit Zürich liegt Oslo. 

Gegenüber der letzten Erhebung im Jahr 2019 ist dieser Wert in Zürich etwas gestiegen – und zwar von etwa 33 auf 35 Prozent. Damit liegt Zürich im europäischen Schnitt: In allen 83 Städten hat der Anteil der Autonutzerinnen und -nutzer an einem durchschnittlichen Tag um 2 Prozentpunkte zugenommen. Dies könnte auch mit der Corona-Krise und Änderungen im Nutzungsverhalten zu tun haben. Rückläufig war die Auto-Nutzung hingegen in Stockholm, Oslo und Wien.

Unter dem Strich schneidet Zürich im Verkehrsbereich also nur bei der Qualität des ÖV exzellent – nicht aber bei dessen Nutzung, und schon gar nicht bei der Anzahl der Velofahrerinnen und -fahrer und beim Anteil von Menschen, die zu Fuss unterwegs sind. Gleichzeitig sollte die Zunahme von Menschen, die das Auto als Hauptverkehrsmittel nutzen, zu denken geben – zumal es anderen Städten trotz möglichen Nachwirkungen der Coronakrise gelungen ist, diesen zu senken. Die Verkehrspolitik in der Stadt Zürich hat noch einen langen Weg vor sich, bis die Stadt auch in dieser Kategorie europäische Spitze ist.

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