
Anders Stokholm (FDP) ist Stadtpräsident von Frauenfeld und Präsident des Städteverbands. Mit seiner Forderung nach Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen hat er auch viele Mitglieder seine Partei gegen sich aufgebracht. Im Interview sagt er, warum er die Kritik für unbegründet hält, was er von «Killersätzen» hält und warum Lärm zum Leben gehört.
von Stefan Ehrbar
7. Februar 2023
Der Städteverband hat sich für Tempo 30 generell im Siedlungsgebiet ausgesprochen. Der Bund will aber am Grundsatz «Tempo 50 auf Hauptstrassen» festhalten. Wie hoch schätzen Sie die Erfolgschancen ihrer Forderung ein?
Ich schätze die Erfolgschancen als intakt ein. Hinter dem Anliegen für Tempo 30 generell verbergen sich Anforderungen von Stadtentwicklung und Lärmschutz. Der Umgang mit Lärm im Siedlungsgebiet ist herausfordernd: Er ist lästig, schadet der Gesundheit und der Wirtschaft. Die Städte wollen und müssen die Bevölkerung vor übermässigem Lärm schützen. Der Strassenverkehr ist klar die Nummer eins der Lärmverursacher. Tempo 30 ist eine einfache, kostengünstige und effektive Massnahme, den Lärm zu reduzieren. Diese einfache Massnahme lässt sich per Verordnung umsetzen. Sie bringt eine Linderung für mehr als 1 Million Lärmgeplagte. Davon leben 90% in Städten und Agglomerationen.
Kritik daran gibt es von TCS, Gewerbeverband und Co. Damit werde das Gewerbe ausgebremst und es komme zu Ausweichverkehr in den Quartieren. Zudem würden Blaulicht-Einsätze verlangsamt. Was entgegnen Sie dieser Kritik?
Diese Kritik ist unbegründet. Sie stellt die Maschine über den Menschen.
Das Gewerbe profitiert von Tempo 30. Dies ist aus Studien und Erfahrungen aus dem nahen Ausland seit Jahren bekannt. Temporeduktionen auf Tempo 30 (markanter noch auf Tempo 20) werten die Ortszentren auf und erhöhen Lebens- und Aufenthaltsqualität. Davon profitiert natürlich auch das Gewerbe.
Für den Ausweichverkehr in Quartiere gibt es keine Beweise. Es ist wichtig, dass eine Regelumkehr wie Tempo 30 innerhalb eines Gesamtverkehrskonzepts erfolgt. Diese Konzepte müssen in der Folge angepasst werden.
Auch die Kritik, Blaulicht-Einsätze werden erschwert, ist nicht nachvollziehbar. Blaulichtfahrzeuge sind immer noch vortrittsberechtigt. Bereits heute kann mit der gebotenen Sorgfalt von Geschwindigkeitsvorschriften abgewichen werden. Daran soll aus unserer Sicht nichts geändert werden.
Ebenfalls wird kritisiert, dass der Städteverband die Entwicklung hin zur Elektromobilität unterschlage. Diese mache die Fahrzeuge viel leiser und das Lärmproblem löse sich quasi von selbst. Was sagen Sie dazu?
Auch dieses Argument ist nicht haltbar. Untersuchungen zeigen ein klares Bild: Bis 30 km/h ist das Motorengeräusch relevant und elektrisch betriebene Fahrzeuge leiser. Fährt ein Auto schneller, sind die Roll- und nicht die Motorengeräusche relevant. Es gibt keinen wahrnehmbaren Unterschied mehr, egal welchen Motorentyp ein Wagen besitzt, also elektrische Autos sind genau so laut wie solche mit Verbrennungsmotor. Deshalb sind E-Fahrzeuge kein Argument gegen Tempo 30.
Zum Teil heftige Kritik kam auch aus ihrer eigenen Partei. Christian Wasserfallen spricht etwa gegenüber Tamedia von einer «vollkommen ideologischen Forderung». Sind sie überrascht?
Ja, denn üblicherweise stellen sich Freisinnige einer faktenbasierten, sachlich geführten Diskussion und nehmen nicht die rhetorische Keule von Killersätzen in den Mund.
Sehen Sie die Position der FDP als Problem an, wenn die Partei auch in städtischen Gebieten bei den Wählerinnen und Wählern punkten will? Ist die Partei hier zu sehr in alten Gräben?Ich erhalte unterschiedliche Rückmeldungen, auch aus der FDP. Im übrigen vertrete ich diese Haltung nicht in erster Linie als Parteimitglied, sondern als Präsident des Schweizerischen Städteverbandes. Dass es innerhalb einer Partei deshalb zu Meinungsverschiedenheiten kommt, gehört zur politischen Diskussion. Jede Partei tut dann gut daran, die verschiedenen Argumente aufzunehmen, zu gewichten und dann zu vertreten. Ergeben sich neue Fakten und Situationen, sollte auch die Position überdacht werden. Meines Erachtens liegen mit der Notwendigkeit der inneren Verdichtung neue Gegebenheiten vor, auf die auch die FDP eingehen sollte.
Tempo 30 hat positive Effekte in Sachen Lärm. Andere Probleme lassen sich damit aber nicht lösen – etwa jenes des hohen Flächenverbrauchs der Autos, das sich in Städten akzentuiert. Wie kann dieses Problem angegangen werden?
Der Städteverband fordert mit Tempo 30 lediglich einen kleinen Beitrag zur Lärmreduktion, der die Lebensqualität und den Wohlstand in den Städten massgeblich erhöht. Es ist eine sehr gemässigte Forderung mit grosser Wirkung. Weitergehende Forderungen wären Massnahmen, die Verkehr vermeiden. Denn die Grundpfeiler einer flächeneffizienten und nachhaltigen Mobilität sind das Zufussgehen, Velofahren und der ÖV.
Was halten Sie von Ideen wie Quartierparkhäusern, der Pflicht zur Benutzung von vorhandenen privaten Parkplätzen und Road Pricing?
Parkhäuser sind prinzipiell zu begrüssen, damit parkierte Autos nicht den öffentlichen Grund in Beschlag nehmen. Das gilt für öffentliche und private Parkplätze. Der öffentliche Raum ist bekanntlich gerade in Städten sehr knapp und kostbar. Die Städte sollen selbst Zonen definieren können, die unter anderem von Fahrzeugen mit bestimmten Abgaswerten zumindest zu bestimmten Zeiten nicht befahren werden dürfen. Sämtliche grosse und auch einige der mittleren Städte haben sich diesbezüglich für zusätzlichen Handlungsspielraum ausgesprochen. Zum Potential gibt es auch eine Studie zu einer klimafreundlichen Mobilität der Städtekonferenz Mobilität aus dem Jahr 2020. Unabhängig davon ist das Mobility-Pricing zu betrachten, zu dem der Bund Pilotprojekte durchführen will. Der Städteverband befürwortet, dass das Instrument nun auf seine Tauglichkeit überprüft wird.
Streit gibt es in verschiedenen Städten auch um die Höhe der Gebühren für die Parkkarten. Ist es aus Ihrer Sicht legitim, die Zahl der Autos in Städten über den Preis zu regulieren?
Das Parkraummanagement ist momentan für die Städte eine der ganz wenigen Möglichkeiten, ihre Herausforderungen mit der Mobilität und den öffentlichen Räumen selbst anzupacken. Im Sinne der Gemeindeautonomie ist dieses Instrument wünschenswert, doch hat es wohl wenig Auswirkungen auf die Zahl der Autos.
Viele Städte wollen generell weniger Autos. Sie auch?
Ich möchte eine Mobilität, die ihren Zweck erfüllt und verträglich ist mit Mensch und Umwelt.
Wie können effizientere Verkehrsmittel sinnvoll gefördert werden?
Die Städte haben einen begrenzten kommunalen Handlungsspielraum. So können sie mit gezielten Massnahmen auf ihrem Verkehrsnetz und mit integralen Planungsgrundlagen einen möglichst nachhaltigen Modalsplit fördern. In der Bundespolitik und in tripartit zusammengesetzten Gremien bringt sich der Städteverband regelmässig mit Anliegen für die Städte ein. Dabei werden Anliegen unterstützt, die den öffentlichen Verkehr, das Zufussgehen und das Velofahren ermöglichen. Sie gelten als die Grundpfeiler einer flächeneffizienten und nachhaltigen Mobilität. Eine weitere Massnahme, die der Städteverband unterstützt, sind z.B. die Agglomerationsprogramme Verkehr. Des Weiteren waren in den letzten Jahren das Veloweggesetz oder die erfolgreiche Opposition gegen Anpassungen des Strassenverkehrsgesetzes, die eine Öffnung der Trottoirs als Parkplätze für Motorräder vorgesehen hätte, wichtig. Generell gilt: je sicherer, einfacher und selbstverständlicher die Wahl eines Verkehrsmittels ist, desto eher wird dieses genutzt und in den Alltag integriert. Wenn es dann noch ein attraktives, dichtes und direktes Verkehrsnetz gibt, das hindernisfrei und attraktiv ist, stehen die Chancen noch besser.
Noch immer gibt es Menschen, die auch in den Städten auf ein Auto angewiesen sind oder dies nutzen, weil sie sich z.B. im öffentlichen Verkehr nicht sicher fühlen oder schlechte Erfahrungen machten. Wie können Städte sicherstellen, dass diese nicht unter Massnahmen leiden?
Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Zum einen sind die Verkehrswege sicher zu gestalten. Für die gewünschten nachhaltigen Verkehrsmittel gelten darüber hinaus explizit die oben genannten Kriterien: direkte, lückenlose und attraktive Verkehrsnetze, die hindernisfrei und attraktiv sind. Wieviel Platz dann dieses Auto auf dem öffentlichen Grund einnehmen soll, wie schwer und damit risikobehaftet es ist, oder wie es um dessen Energiebilanz aussehen soll, das ist eine andere Frage.
Wie sollte eine Aufteilung des Strassenraums in Städten idealerweise aussehen? Welches Verkehrsmittel sollte wie viel Platz erhalten?
Der Strassenraum ist öffentlicher Raum, also kostbar für alle Stadtbewohnerinnen und Stadtbesucher. Er soll auch den nachhaltigen und flächeneffizienten Verkehrsmitteln, das heisst dem Zufussgehen, dem öffentlichen Verkehr und dem Velofahren zur Verfügung stehen. Dabei sind Bewegung und Begegnung, das heisst eben auch Lebens- und Aufenthaltsqualität und das Gewerbe inklusive Konsummöglichkeiten wichtig. Entsprechend gilt es, den Raum so zu gestalten, damit die Sicherheit gewährleistet sowie Lärm und Verschmutzung vermieden werden können.
Die Veloinfrastruktur ist hierzulande im Vergleich etwa zu den Niederlanden eher dürftig. Sollte sie auch auf Kosten des Autos ausgebaut werden?
Im Modalsplit vieler Schweizer Städte sieht die Bilanz für die Velos nicht so gut wie in den Niederlanden aus. Dafür steht es besser um den Anteil des öffentlichen Verkehrs und des Zufussgehens. Folgen wir den Grundpfeilern der nachhaltigen Mobilität, dann sollten die Zugewinne dort erfolgen und nicht bei individuellem und am wenigsten flächeneffizientem Verkehrsmittel. Konzepte wie die einer 15-Minuten-Stadt können dabei als Planungsgrundlagen helfen, sie stehen zudem im Einklang mit den Raumplanungsgesetzen, die eine Innenverdichtung erfordern.
Sollte auch der ÖV zugunsten der Veloinfrastruktur Platz abgebe müssen?
Die Städte sind in der Lage, den öffentlichen Verkehr, das Zufussgehen und das Velofahren unter einen Planungshut zu bringen. Es gibt dazu interessante und erprobte Ansätze.
Das Thema «Autos in der Stadt» wird emotional diskutiert. Einige finden, Verkehr und Lärm gehören zu einer Stadt, andere betonen die Lebensqualität für die Einwohner stärker. Wo positionieren Sie sich?
Da gibt es meines Erachtens nicht einfach schwarz oder weiss. In den Industrie- und Gewerbegebieten gehört Lärm dazu, in den Wohngebieten sollte es neben dem Alltagslärm nicht zu viele weitere Lärmquellen geben. Wichtig ist, dass – wo Lärm entsteht, und solcher gehört tatsächlich zum Leben – dieser wenn möglich an der Quelle bekämpft wird. Und da 80 Prozent des Lärms durch den Strassenverkehr verursacht wird, ist die Reduktion dort am sinnvollsten.
Der Bund will künftig den ÖV vor allem in den Agglomerationen ausbauen. Unterstützen Sie dies?
Dies unterstützen wir dezidiert. Mit den Agglomerationsprogramm Verkehr können diverse Projekte auch im Bereich des Velo- und Fussverkehrs auf Unterstützung der Bundesebene zählen. Der Städteverband unterstützt diese Programme seit der ersten Stunde. Sie sind wichtig für die Städte.
Sie sind Stadtpräsident von Frauenfeld. Welche Verkehrspolitik verfolgen Sie dort?
Auch bei uns sind Verkehrsthemen wichtig. Wir wollen auch in Frauenfeld die Mobilität in einer Art gewährleisten, dass sie ihren Zweck erfüllt und dabei auf Mensch und Umwelt Rücksicht nimmt. Der Modalsplit steht dabei im Vordergrund.
Wie bewegen Sie sich selbst fort?
In der Stadt bin ich meistens zu Fuss unterwegs. Bei kürzeren oder mittellangen Strecken ausserorts nehme ich gerne das E-Bike. Wenn ich nach Bern fahre, dann nehme ich den Zug. Und mit der Familie fahre ich meistens unser Auto, das noch hybrid betrieben wird.
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