Das Schweizer Bahnangebot wird mit dem Ausbauschritt 2035 deutlich erweitert. Auf vielen Strecken wird ein Viertelstundentakt zum Standard. Eine Studie im Auftrag des Bundes zeigt: Bei so einem dichten Takt könnte es sinnvoll sein, auf das Prinzip der Taktknoten zu verzichten. Die Hintergründe.
von Stefan Ehrbar
21. Juni 2022
Fast 40 Jahre ist es her, seit in Zürich der erste Taktknoten der Schweiz in Betrieb ging. Ein solcher Knoten ist in einem Taktfahrplan vereinfacht gesagt ein Bahnhof, in dem sich mehrere Linien gleichzeitig treffen und in dem auf andere Züge des Taktfahrplan umgestiegen werden kann. Bei einem sogenannten Vollknoten sind alle Anschlüsse zwischen den verschiedenen Linien in einem Knotenbahnhof aufeinander abgestimmt: Von jedem ankommenden Zug kann auf jeden abfahrenden Zug – mit Ausnahme des Zugs in der Gegenrichtung – umgestiegen werden.
Per 2030 wird es in der Schweiz 14 Knoten geben. Um etwa die Vollknoten in Bern, Zürich und Basel zu ermöglichen, mussten die Fahrzeiten zwischen diesen Städten auf unter 60 Minuten gebracht werden. Solche Knoten gehören zum festen Inventar des Taktfahrplans – und sind wichtig, weil mit ihnen schnelle und lückenlose Reiseketten angeboten werden können.
Doch möglicherweise sind sie ein Auslaufmodell. Denn mit dem Ausbauschritt 2035 wird selbst im Fernverkehr auf vielen Linien nicht mehr der Stunden- oder Halbstundentakt, sondern der Viertelstundentakt zum Standard. Und bei dieser Taktfolge könnte es sogar vorteilhaft sein, die Knoten aufzulösen.
Zu diesem Schluss kommt die Studie «Taktverdichtung im Bahnverkehr der Schweiz unter Berücksichtigung des Knotenprinzips», die vom Bundesamt für Verkehr auf Antrag der Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten SVI in Auftrag gegeben wurde. Sie wurde von einem Team um Experten der Firma SMA und Partner AG, der EPFL, der BLS und der Niederländischen Bahn NS erstellt. Die Studie ist vor kurzem veröffentlicht worden.
Dass eine Knoten-Auflösung positive Effekte nach sich ziehen könnte, liegt im Wesentlichen daran, dass ab einer gewissen Taktdichte geplante Anschlüsse keine wichtige Rolle mehr spielen, weil die Wartezeit auf die nächste Verbindung sowieso nur wenige Minuten beträgt.
In der Studie wurden die Folgen der Auflösung eines Vollknotens am Beispiel des Bahnhof Bern durchgespielt. Zugrunde gelegt wurden das Angebot und die Ausbauten, wie sie im Zug des Ausbauschritt 2035 realisiert werden sollen. Die Studie kam zu folgenden Ergebnissen:
- Würde der Vollknoten aufgelöst, könnte die sogenannte Verlustzeit der Reisenden um durchschnittlich eine Minute gegenüber dem Vollknoten realisiert werden.
- Die Auflösung des Vollknotens würde der Infrastruktur insofern helfen, als dass der Ausbaubedarf kleiner wäre, weil die Infrastruktur zeitlich optimiert genutzt werden könnte.
- Der Ressourcenbedarf wäre bei aufgelösten Knoten aufgrund von kürzeren Haltezeiten und wegen optimierten Umläufen im Regionalverkehr «geringfügig kleiner».
- Welches Szenario für stabilere Transportketten sorgt, konnte allerdings nicht ermittelt werden.
- Für den Güterverkehr wäre eine Auflösung der Vollknoten nicht unbedingt eine gute Nachricht, denn die Kapazitätsnutzung und die Trassierung würden erschwert. Güterverkehr-Trassen müssten höher priorisiert werden, um negative Effekte auszugleichen.
Die Autoren schätzen die Erkenntnisse als «gut übertragbar» für die Knoten Zürich und Lausanne sowie grösstenteils für Biel an. Nur bedingt übertragbar sind sie hingegen für Luzern und St. Gallen, weil dort teilweise Expresslinien enden und nur mittelgrosse Regionalverkehrs-Systeme vorhanden sind. Eher nicht übertragbar wiederum sind die Erkenntnisse auf die Knoten Basel und Genf – und zwar «im Wesentlichen auf Grund der wenigen durchgebundenen Linien im Expressverkehr, welche bei Knotenauflösung nicht von kurzen Haltezeiten profitieren». Für kleine und mittelgrosse Knoten wiederum seien die Ergebnisse kaum übertragbar.
Sollen also mit einem weiteren Ausbau des Bahnangebots auch die Taktknoten geopfert werden? «Das Auflösen von Vollknoten des Fernverkehrs in grösseren Knoten ist bei 15-Minuten-Takten grundsätzlich prüfenswert: Die Angebotsqualität ist über alle Verbindungen gesehen gegenüber einem Vollknoten etwa gleichwertig, wobei jedoch potenziell weniger Infrastrukturmassnahmen nötig werden», heisst es in der Studie. Durchgebundene Verbindungen profitierten von kürzeren Aufenthaltszeiten, einzelne Umsteigeverbindungen könnten sich aber auch verlangsamen.
«Bei einer Knotenauflösung ist darauf zu achten, dass die Ausdünnung des Angebots in Randstunden nicht zu einer Verschlechterung der Transportketten führt», schreiben die Experten weiter. Eine Aussage für das nationale Netz könne zudem nur mit einer entsprechenden Erweiterung des Betrachtungsperimeters geprüft werden. «Es empfiehlt sich zudem eine Mitbetrachtung des «untergeordneten» ÖV-Angebots».
Die Autoren empfehlen, das Vollknoten-Prinzip nicht flächendeckend aufzulösen, sondern diese Option in dafür geeigneten Knoten zu prüfen. Dafür müssten einige Bedingungen gegeben sein, namentlich:
- Die 15-Minuten-Takte des Expressverkehr gelten für die Mehrheit der Linien im Knoten.
- Sie werden über den grössten Teil der Betriebszeiten aufrecht erhalten. Würde der Takt in Randzeiten ausgedünnt, hätte eine Auflösung von Vollknoten negative Folgen, weil die Umsteigezeiten ohne Knoten zu diesen Zeiten wieder deutlich länger würden.
- Das Angebot des Regionalverkehrs ist mindestens ebenso dicht getaktet wie jenes des Regionalverkehrs.
- Es stehen hohe Investitionen in die Knoteninfrastruktur an.
Eine Auflösung von Vollknoten könnte also für einzelne Bahnhöfe wie Bern, Zürich HB oder Lausanne eine sinnvolle Option sein und die Angebotsqualität sogar verbessern. Vorerst allerdings bleibt das noch ein Gedankenspiel: Die Planung für den Ausbauschritt 2035 ist schon relativ weit fortgeschritten, ohne dass eine solche Auflösung in einem der genannten Bahnhöfe geplant wäre. Für nächste Ausbauschritte könnte sich das ändern.
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