Guido Schoch: Keine substanziellen Fortschritte in der Bahnpolitik trotz Milliarden-Investitionen – doch niemand will die Lehren daraus ziehen 🆓

Wieso stagniert der ÖV in der Schweiz trotz Ausbauten? Bild: SBB

Die Schweiz hat heute ein ausgezeichnetes öV-System, um das wir weltweit benieden werden. Wir leben aber von den Errungenschaften der Vergangenheit: Taktfahrplan, Bahn 2000 sowie Neat. In den letzten 15 Jahren wurden weitere Milliarden ins Bahnsystem Schweiz investiert. Hat sich nun wirklich etwas verbessert? Der Gastbeitrag von Guido Schoch.

von Guido Schoch*
11. September 2023

Neben punktuellen Erfolgen wie dem Ausbau einiger S-Bahnen, ist die Bilanz sehr ernüchternd: Der Modalsplit stagniert seit 15 Jahren, d.h. das Verkehrswachstum im Personen- und Güterverkehr fand hauptsächlich auf der Strasse statt. Die Projekte von überregionaler Bedeutung, welche seither gestartet wurden, sind grösstenteils gescheitert, und die zukünftigen Angebotskonzepte zeigen einen klaren Abbau, was eigentlich zu grosser Sorge Anlass geben sollte. Das Schlimmste daran ist, dass dies (fast) niemanden stört, geschweige denn jemand dazu bereit ist, die Lehren daraus zu ziehen.


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Erstaunlicher Mangel an Fachwissen

Das BAV schreibt zur aktuellen Lage (Dokumentation Planungsgrundlagen für die Erarbeitung der Botschaft 2026, S. 8f):

  • „Die technisch geplanten Fahrzeiten sind in den Planungstools zu wenig realitätsnah hinterlegt, d.h. die geplanten Fahrzeiten sind zu wenig nahe an den im operativen Betrieb erreichbaren Fahrzeiten.
  • Die Zugfolgezeiten sind in den Planungstools zu knapp hinterlegt
  • Die Infrastrukturen in den grossen Knoten sind mit zu viel Angebot beplant, d.h. in den Knoten weist die geplante Gleisbelegung zu wenig Reserven zur Abdeckung von ungeplanten Abweichungen im operativen Betrieb aus.
  • Die Einbruchsverspätungen von internationalen Verkehren aus dem Ausland sind nicht genug berücksichtigt.“

Bei den oben erwähnten Punkten handelt es sich um elementares Fachwissen für den Betrieb einer Eisenbahn. Wenn dies weder SBB noch BAV rechtzeitig bemerkt haben, ist dies alarmierend.

Beispiele für gescheiterte nationale Projekte

Nehmen wir einige Problemzonen unter die Lupe:

Bahnhof Lausanne: Planung seit 2009: 2023 merkt man, dass Kapazität der Perrons und Bahnanlagen nicht genügen. Die Fertigstellung wird um mindestens 12 Jahre verzögert.

Fahrplan 2025 Westschweiz: Wichtige Errungenschaften von Bahn 2000 gehen verloren; die Binsenwahrheit, dass Baustellen und mehr Fahrgäste die Fahrzeiten verlängern, wurde erst 2023 erkannt. Rechtzeitige Massnahmen wurden versäumt.

EuroCity EC Zürich – München:

  • 2022 waren 80 % der Eurocity-Züge bei der Abfahrt in St. Gallen in Richtung Zürich verspätet. Jeder fünfte Zug hatte eine Verspätung von 30 Minuten oder mehr.
  • wenn EC mit 3‘ (inzwischen 6‘) Verspätung in St. Margrethen ankommt, kann er die Regios resp. InterRegio nicht mehr überholen und kommt mit ca. 30‘ zu spät in Zürich an.
    • Dieses Konzept würde bei keinem Schweizer IC funktionieren. Der knappe Ausbau in Deutschland ist seit mehr als 20 Jahren bekannt ebenso die mangelnde Pünktlichkeit der DB. Es wäre genügend Zeit gewesen, Massnahmen zu ergreifen.

Zimmerbergtunnel 1: Beim Bau wären die Bauunternehmen bereit gewesen, den Tunnel für 400 Mio Franken bis in Region Baar zu verlängern. Obwohl schon damals bekannt war, dass ein Ausbau erforderlich ist und später viel teurer wird, wurde mit der Ausrede eines fehlenden Budgets darauf verzichtet. Die Kosten betragen heute rund 1,5  Mrd Franken. Der Unwillen einen Zusatzkredit zu verlangen, hat also Kosten von über 1 Milliarde Franken und schlechte Verbindungen für die Kunden während Jahren verursacht.  

Zimmerbergtunnel 2: im letzten Herbst ist in einem Papier des BAV festgehalten, dass aus Budgetgründen die   Vmax auf 160 km/h reduziert wird und auf Vorarbeiten für den Anschluss Meilibach verzichtet wird. Es gibt keinerlei Aussagen zu den Auswirkungen, obwohl ein späterer Ausbau nicht mehr möglich ist. Vielleicht fehlen in Zukunft genau diese Minuten für gute Anschlüsse. Aber solange man ohne Konzept baut, merkt man die Folgen erst im Nachhinein. Aus den Fehlern des Zimmerbergtunnels 1 hat man scheinbar nichts gelernt.

Lötschbergbasistunnel: ein grosser Teil des Geldes hätte bei einem sofortigen Vollausbau gespart werden können.

Ausbauten verschiedener Bahnhöfe, die mehrmals hintereinander umgebaut werden, weil man erst im Nachhinein merkte, dass der Umbau den Anforderungen nicht genügt.


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Unprofessionelle Beschaffung von Fahrzeugen:

  • Ein wichtiger Teil des Fernverkehrsfahrplans beruhte auf Zügen mit Neigetechnik. Die einstöckigen ICN sollen aber Ende der 30er Jahre ohne Ersatz ausgemustert werden. obwohl diese zuverlässig sind. Es wurden hingegen als Weltneuheit und ohne Prototyp 60 doppelstöckige Züge beschaffen, dessen Neigetechnik nicht funktioniert. Mehrmalige Änderung der Anforderungen nach Bestellung (Eine elementare Grundlage des Projektmanagement ist, dass Änderungen an den Anforderungen nach der Bestellung nur zu Problemen führen, nicht nur bei Grossinvestitionen, sondern sogar bei der Renovation des Eigenheims). Forderung der Zulassung in Deutschland und Österreich, obwohl sie für diesen Strecken nicht geeignet sind (für Rheintalstrecke zu langsam, nach Stuttgart zu gross, Ausbau München für Reihe N nicht W, für Arlberg nicht geeignet). Das kleinere deutsche Lichtraumprofil und die leicht höheren Perronnormen in Deutschland führten zu Problemen mit der Behindertentauglichkeit. Mit einer professionellen Beschaffungspolitik wären diese Probleme nicht entstanden.
  • Das Sitzplatzgewicht der Giruno ist um 25% höher als bei den Neigezügen, was zu einem deutlich höheren Energieverbrauch führt. Ebenso haben sie weniger Sitzplätze ohne, dass der Komfort für den Fahrgast gestiegen wäre.

Es kommt noch schlimmer: Der Entwurf für das Angebotskonzept 2035 ist eine Bankrotterklärung und der beste Beweis für eine komplett verfehlte Ausbaupolitik. Wenn nur der kleinste Teil verwirklicht würde, würde es sich um den grössten Abbau aller Zeiten handeln. Ein grosser Teil der Errungenschaften von Bahn2000 werden begraben trotz Investitionen von rund 27 Milliarden Franken nach Bahn 2000 (diese hat nur 5,6 Milliarden gekostet).

Die drei grossen Knackpunkte

Was läuft da schief? Dafür sind meines Erachtens folgende 3 Punkte verantwortlich:

  1. Investitionen ohne Gesamtkonzept mit der Giesskanne. Planung von unten nach oben in mehreren Planungsregionen. Eine übergeordnete, nationale Gesamtsicht, wie bei Bahn 2000 kommt nicht zustande. Jede Region kämpft für ihre Infrastrukturen ohne genau zu wissen, was sie für das gesamtschweizerische Angebot bedeuten. Am Ende passt nichts zusammen, denn der Verkehr endet nicht an den Kantonsgrenzen, und alle sind enttäuscht, dass der Ausbau keine besseren Verbindungen gebracht hat.
  2. Konzentration auf Infrastrukturausbauten statt auf Angebotskonzepte: Infrastrukturausbauten sollten eine Folge eines Angebotskonzeptes sein und nicht ein Beschäftigungsprogramm für die Bauindustrie oder das Wunschkonzert der lokalen Politik. Der Erfolg eines Infrastrukturprojekts misst sich an der optimalen Erfüllung des Kundennutzens. Auch wenn die Kosten und Termine noch so gut eingehalten werden (was zweifellos wichtig ist), bleibt ein Infrastrukturobjekt ohne optimalen Nutzen für das Angebot ein Flop.
  3. Falsche Organisation: Es fehlt an der politischen Führung. Wir leben von den Errungenschaften der Vergangenheit: Taktfahrplan, Bahn 2000 und der Neat. Seither wird dieses Erbe mehr schlecht als recht verwaltet. Man beschränkt sich auf die Verteilung von regionalpolitischen «Geschenken» ohne Berücksichtigung der Folgen für das System Schweiz.

Das BAV übernimmt immer mehr Rollen

Zudem fehlt es an einer Corporate Governance: Unklare Rollenteilung, und stetige Machtkonzentration beim Bundesamt für Verkehr (BAV). Das BAV übernimmt immer mehr Rollen, die nicht kompatibel sind und jeder vernünftigen Corporate Governance widersprechen:

Strategische Ausbauplanung beim BAV: Verwässerung der Verantwortung, ungenügende Fachkompetenz. Die Konsequenzen einer verfehlten Investitionspolitik tragen die Bahnen. Dadurch ist aber auch viel Planungskompetenz bei der SBB verloren gegangen.

So übernimmt das BAV immer mehr die Rolle als Eigentümervertreter der Bahnen, durch immer dichtere Vorgaben und Kontrollen auf Gebieten, die eigentlich dem Verwaltungsrat oder einer unabhängigen Stelle im Bund als Eigentümervertreter zustehen würde. Mikromanagement statt Gesamtschau. Dieser Missstand zeigt sich auch durch immer engere Regulierung und steigende Verschärfung der Normen. Dadurch werden die Freiheiten der Bahnen immer weiter eingeschränkt und die Kosten steigen.

Guido Schoch. Bild: Tom Kawara

Besonders störend ist der Umstand, dass das BAV die Einhaltung und Auswirkungen der von ihm selbst erlassenen Vorschriften prüft. Es ist also «Gesetzgeber», «Justiz» und immer mehr auch «Exekutive» in einer Person. Das führt dazu, dass das Bundesamt die Bahnen für die meisten Probleme verantwortlich macht, auch wenn die Ursachen in der eigenen widersprüchlichen Rollenkumulation begründet liegen. Die Aufgabe eines Bundesamtes wäre es eigentlich, die Politik zu beraten und nicht die strategische und faktisch auch immer mehr die operative Führung der Bahnen zu übernehmen, ohne aber dafür die Verantwortung zu tragen. Darauf weist auch Professor Matthias Finger in seinem Buch »SBB – was nun?» hin.

Fehler können passieren, aber…

Fehler können in Projekten immer passieren. Auch mit grösster Sorgfalt können sie nie ganz vermieden werden. Bis 2035 wird man aber 27 Milliarden Franken investiert haben mit dem Erfolg, dass uns das BAV mit dem Fahrplanentwurf 2035 die grösste Fahrplanverschlechterung aller Zeiten präsentiert, selbst wenn nur der kleinste Teil der Massnahmen umgesetzt würde.  Fast alle grossen nationalen Investitionsprojekte der letzten 10-15 Jahre sind gescheitert. Die Verantwortlichen von SBB und BAV schieben sich gegenseitig die Schuld zu, oder verharmlosen die Probleme. Ein erschreckendes Beispiel dafür ist die Sendung des Westschweizer Fernsehens „Temps Présent“ vom Mai über den Ausbau des Bahnhofs Lausanne, wo Aussagen fallen wie: bei so grossen Projekten ist so etwas ganz normal, das ist alles nicht so schlimm, die Züge fahren ja noch ….

Da müssten eigentlich die Alarmglocken läuten. Es wäre absolut vordringlich zu klären, was da schief gelaufen ist. Ist es die unglückliche Rollenteilung zwischen Bahnen und BAV? Ist es fehlende Fachkompetenz an den entscheidenden Stellen? Ist es mangelnde politische Leadership? …. ?  Es geht nicht darum, Sündenböcke zu suchen, sondern zu klären, was falsch gelaufen ist und die nötigen Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Das erstaunliche ist, dass sich (fast) niemand daran stört weder in der Öffentlichkeit noch der Politik. Wir fahren so weiter wie bisher – nur mit doppelter Geschwindigkeit. Auch die Grundlagen zur Vernehmlassung von Bahn 2050 lassen nicht Gutes erahnen. Weitere Fehlinvestitionen sind vorprogrammiert. Wenn wir das Steuer nicht schleunigst herumreissen, werden wir trotz riesiger Investitionen das heute noch ausgezeichnete System öV-Schweiz an die Wand fahren.

*Guido Schoch war Direktor der Südostbahn und der Verkehrsbetriebe Zürich. Der Ökonom ist Vizepräsident des Vereins Swissrailvolution und Mitglied im Zentralvorstand von Pro Bahn Schweiz.



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