Die Distanzierung von Andreas Meyer: Darum wird die Kritik der ÖV-Branche am Ex-SBB-Chef peinlich

Er ist nicht mehr SBB-Chef: Andreas Meyer. Bild: SBB / christinestrub.ch

In der ÖV-Branche haben viele Gefallen daran gefunden, Ex-SBB-Chef Andreas Meyer zu kritisieren. Auf mehr oder weniger stilvolle Art machen das etwa Pro Bahn, Benedikt Weibel oder Gewerkschaften. Besonders kreativ ist das nicht – und offenbart ein seltsames Verständnis davon, was die SBB leisten muss. Ein Kommentar.

von Stefan Ehrbar
18. Januar 2022

Es war mal wieder Zeit für das Nachfolger-Bashing, als Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel vor zwei Wochen den Tamedia-Zeitungen Red und Antwort stand. Weibel, der Meyer auch in seinem neuen Buch kritisiert, kreidet ihm an, dass er die SBB zum Mobilitätsdienstleister habe umbauen wollen. «2019 verkündeten die SBB, sie wollten mit einer App das Silicon Valley angreifen. Da hat man sich auch im Ton etwas übernommen. Einer der wichtigsten Managementgrundsätze ist immer noch «Schuster, bleib bei deinem Leisten»», so Weibel. Sowieso lässt Weibel kaum eine Gelegenheit aus, gegen seinen Vorgänger zu sticheln: Seine Idee, dass die Bahn kombinierte Verkehrslösungen anbieten solle, sei ein «Irrweg», sagte er im September 2021 der NZZ – und doppelte mit einem vergifteten Kompliment nach: «Mich hat es gefreut, dass der SBB-Chef Vincent Ducrot sagte, die Bahn müsse sicher, pünktlich und sauber sein, als er seinen Posten übernahm.»

Die Rivalität der beiden Ex-Bahnchefs hat eine Vorgeschichte. 2018 attestierte Weibel Meyer via Sonntagszeitung eine «Wahrnehmungsstörung», nachdem dieser im Sonntagsblick behauptet hatte, bei seinem Amtsantritt eine Bahngesellschaft übernommen zu haben, «die am Auseinanderbrechen» gewesen sei. Der Groll mag also menschlich verständlich sein. Doch Weibel ist bei weitem nicht der einzige.

Die Interregio-Züge nach Luzern sind Ende 2021 unpünktlich? Natürlich eine «Nachwirkung der Ära des Ex-SBB Chef Andreas Meyer», weiss Martin Stuber von Pro Bahn Zentralschweiz gegenüber der «Luzerner Zeitung». Auch die Medien machen fleissig mit: Der neue SBB-Chef verleihe der Bahn «nach der Ära Meyer» mit ihren «hochfliegenden Plänen» wieder Bodenhaftung, schreibt die «Bilanz».  «An der Spitze war mit Andreas Meyer ein CEO (und kein Bähnler), der mehr als eine Million verdiente und den Zugang zum Volk nicht mehr fand», urteilte vor einigen Monaten der «Tages-Anzeiger». Giorgo Tuti, Chef der Verkehrs-Gewerkschaft SEV, schmeichelte dem aktuellen SBB-Chef Vincent Ducrot, indem er über den Vorgänger abzog: «Ducrot ist ein Direktor und kein CEO vom Schlage Meyer», sagte er vor einem Jahr dem «Tages-Anzeiger».

Dass man Dinge anders angehen kann, zeigt der aktuelle SBB-Chef Vincent Ducrot. Er betont immer wieder, dass er einen anderen Fokus legt als sein Vorgänger und sich primär um den Betrieb kümmern will – und ist realistisch genug, in Meyer nicht den Antichrist des ÖV zu sehen. In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» wurde er gefragt: «Viele Angestellte nehmen es Ihrem Vorgänger Andreas Meyer übel, dass er Ihnen solche Probleme hinterlassen hat. Und Sie?» Ducrots Antwort: «Ich nehme ihm nichts übel. Bei meiner Pension wird man das Gleiche über mich sagen.» Auch Meyer selbst hält sich mit Kritik zurück: Eine Interviewanfrage von Mobimag lehnte er letztes Jahr ab, weil er sich zu Mobilitätsanfragen nicht öffentlich äussern wolle. Die Weichen zu stellen, liege nun in anderen Händen.

Die Obsession mit Andreas Meyer auch zwei Jahre nach dessen Abtritt von der SBB-Spitze wirkt langsam etwas peinlich. Natürlich hat Meyer Dinge richtig und Dinge falsch gemacht, viele seiner Visionen wurden nicht realisiert. Während Meyer den Unterhaltsrückstand von seinem Vorgänger erbte und zurecht einen Mentalitätswandel von der Beamtenbahn, bei der noch jede Barriere von Hand geschlossen werden soll und die Passagiere dankbar für die Mitnahme sein sollen, einleitete, gelang ihm anderes nicht. Der Lokführermangel etwa geht auf seine Ära zurück, genauso wie das zumindest umstrittene Reformprojekt Kundenbegleitung 2020, das dazu führte, das laut den Aussagen der Gewerkschaften auf vielen Fernverkehrszügen zu wenig Personal für zu viele Passagiere verantwortlich ist. 

Doch um solche konkreten Kritikpunkte geht es in der Meyer-Kritik nur selten. Sie ist Chiffre geworden für eine unerwünschte Entwicklung der SBB hin zu einer Unternehmung, die mehr macht als Züge pünktlich von A nach B zu bringen. Die Meyer-Kritik ist gleichzeitig auch eine Art nostalgischer Wunsch nach einer Bahn, die nichts mehr ist als eben nur eine Bahn. Dieser Wunsch tönt legitim, ist aber gefährlich.

Denn die gemeine Bahnkundin und der gemeine Bahnkunde sind nicht mehr dieselben wie vor 50 Jahren. Sie erwarten eine App, in der sie auch Tickets für internationale Reisen unkompliziert kaufen können, wie sie es von der Luftfahrt gewohnt sind. Vor ihrer Wohnung stehen Elektro-Scooter, für die sie nicht zehn verschiedene Apps herunterladen möchten, die sie aber selbstverständlich in ihr Mobilitäts-Verhalten einbauen – genauso wie das Mobility-Auto um die Ecke. Sie wollen ein ÖV-Abo, das preislich berücksichtigt, wenn sie nur noch drei von fünf Arbeitstagen ins Büro fahren und funktionierendes Internet im Zug. Die SBB kommt als mit Abstand grösste Anbieterin von ÖV-Leistungen in der Schweiz nicht umhin, die Digitalisierung auf ihre Agenda zu setzen und zu forcieren. Das steht in keinem Widerspruch zu Pünktlichkeit, Sauberkeit und Komfort. Die SBB muss beides können.

Auch deshalb wirkt die Kritik an Andreas Meyer oft so überzogen. Er hat die SBB nicht ruiniert. Die Bahn war kein perfekter Betrieb ohne Verspätungen und mit dauernd gut gelaunten Kunden, als er sie 2007 übernahm. Als das Anfang 2007 der Fall war, zählte die SBB 285,1 Millionen Reisende, 316’730 Generalabos, eine Kundenzufriedenheit von 76,8 Prozent und eine Anschlusspünktlichkeit von 98%. In seinem letzten Amtsjahr 2019 waren es mit 482 Millionen Reisende 70% mehr, die Zahl der Generalabos lag mit rund einer halben Million 57 Prozent höher und die Kundenzufriedenheit ebenfalls, auch wenn die Werte wegen eines Systemwechsels nicht genau vergleichbar sind. Nur die Anschlusspünktlichkeit war mit 96,8% tiefer als 13 Jahre zuvor.

Diese Kennzahlen sind natürlich nicht geeignet, ein vollständiges Bild der Entwicklung der Bahn zu zeichnen. Doch wer auch zwei Jahre nach Ende der Ära Meyer Versäumnisse der Bahn bei jeder Gelegenheit auf diese Zeit zurückführt und betont, wie finster diese Jahre waren, der macht sich nicht nur unglaubwürdig und outet sich als rückwärtsgewandt, sondern auch als unwillig zur Veränderung. Es ist das letzte, was die Branche in diesen turbulenten Zeiten gebrauchen kann. Mit anderen Worten: Meyer ist jetzt nicht mehr verantwortlich für die Bahn.

Sendehinweis: Diesen Donnerstag, 20. Januar, strahlt SRF1 um 20.05 Uhr eine Dokumentation zur SBB unter den Chefs Benedikt Weibel, Andreas Meyer und Vincent Ducrot aus. Der Film «Die SBB – eine Politstory über tiefrote Zahlen und grüne Zukunft» ist danach auch online in der SRF-Mediathek abrufbar.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diesen Artikel kommentieren