Nirgends in Europa gibt es pro Einwohner so viele Autos wie in Luxemburg. Seit 2020 ist der öffentliche Verkehr deshalb gratis nutzbar. Was hat das gebracht? Ausserdem im Blick aufs Ausland: Der Reifenstaub wird zur Gefahr für die Ozeane – und Pariser Strassen werden rasant umgebaut.
von Stefan Ehrbar
5. August 2022
Das bringt Gratis-ÖV in Luxemburg
Luxemburg mit seinen 640’000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist das wohlhabendste Land der Europäischen Union – und nirgends ist die Autodichte so hoch. Auf 1000 Einwohner kommen im Grossherzogtum 696 Autos. Fast neun von zehn luxemburgischen Familien besitzen ein Auto, jede zehnte gar drei oder mehr. Und das ist noch nicht alles: Diesel und Benzin sind dank tiefen Tarifen nirgends in der EU so billig wie in Luxemburg.
Doch Luxemburg wächst auch – gemäss Prognosen bis 2030 auf 690’000 Einwohnerinnen und Einwohner – und droht laut einem Bericht der Agentur Bloomberg «an seinen Autos zu ersticken». Schon heute sei die Stadt Luxemburg «ein Schachbrett aus Parkplätzen». Um das Problem zu beheben, hat das kleine Land deshalb einen einzigartigen Schritt getan: Seit dem 29. Februar 2020 ist die Nutzung aller öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos, mit Ausnahme der Benützung der ersten Klasse. Doch was hat das gebracht?
Laut dem Bloomberg-Artikel kostet die Massnahme den Staat neben den bereits bestehenden Subventionen 41 Millionen Euro pro Jahr. Für die Fahrgäste sei das System viel einfacher und reibungsloser geworden. Viele jüngere Leute nutzen nun laut dem Artikel den ÖV, um das Land zu erkunden, wie es früher nie möglich gewesen wäre.
Zudem berichten Pendler der Agentur davon, dass sie nicht nur viel Geld einsparen, sondern auch viel Zeit, die sie zuvor im Auto im Stau verbrachten. Nur: Anzeichen dafür, dass in Luxemburg weniger Autos unterwegs sind, gibt es nicht. Im Mai waren die Staus weitgehend gleich oder sogar noch grösser als im Mai 2019 vor Einführung des Gratis-ÖV.
Dieser alleine verleite Menschen nicht dazu, ihr Auto stehen zu lassen, schreibt Bloomberg mit Verweis auf Studien. Er könne ein Anreiz sein, vermöge aber andere mögliche Nachteile wie überfüllte oder verspätete Züge nicht auszugleichen, und die seien in Luxemburg keine Seltenheit. Auch sei das Auto nach wie vor bequemer. Am meisten von Gratis-ÖV profitierten jene, die zuvor zu Fuss oder mit dem Velo unterwegs gewesen seien.
Ein Problem in Luxemburg ist aber auch, dass der Nahverkehr in der Stadt verhältnismässig schlecht ausgebaut ist und ausserhalb sowieso. Bis 2035 will Luxemburg deshalb zusätzlich zum Gratis-ÖV 14 wichtige Verbesserungen im Schienenverkehr umsetzen und Schnellbusse einführen.
Das sei alles kein Gegenargument zu Gratis-ÖV, heisst es im Artikel. Aber man müsse sich bewusst sein, was damit erreicht werden könne und was nicht – und dass Gratis-ÖV mit anderen flankierenden Massnahmen begleitet werden müsse, etwa Beschränkungen der Autonutzung oder Subventionen fürs Wohnen, die es ermöglichen, in der Nähe des Arbeitsplatzes zu leben.
Reifenstaub, die Gefahr für die Ozeane
Reifenstaub wird zur Gefahr für Ozeane und andere Wasser-Lebensräume. Das berichtet die englische Zeitung «The Guardian». So haben gemäss dem Artikel Forscher der Washington State University herausgefunden, warum seit Jahren und jeweils nach grossen Regenfällen Lachse in den Bächen und Flüssen des Puget Sound im Bundesstaat Washington sterben.
Pestizide wurden dort nämlich nicht gefunden. Ebenso konnten Forscher Krankheiten, Sauerstoffmangel und Chemikalien ausschliessen. Nun gelang es den Wissenschaftlern aber, den verantwortlichen Stoff zu isolieren: Es handelt sich dabei um eine Chemikalie namens 6PPD-Chinon, ein Produkt des Konservierungsmittels 6PPD, das Autoreifen zugesetzt wird, um ihren Zerfall zu verhindern.
Die entsprechende Studie wurde im Jahr 2020 veröffentlicht. Mittlerweile werden Reifenabriebpartikel laut dem Artikel als eine der wichtigsten Quellen für Mikroplastik im Meer angesehen. Sie entstehen beim Beschleunigen und Bremsen und werden durch Regen und Wind von den Strassen verweht. Von dort fliessen sie etwa in die Regenwasserkanäle und so in Flüsse und das Meer. Sie werden aber auch aus dem Abwasser und der Atmosphäre freigesetzt, von wo sie in den Ozean und wieder zurück gelangen können.
Laut einer Schätzung ist Reifenabrieb mit 28 Prozent nach Textilfasern mit einem Anteil von 35 Prozent die zweitgrösste Quelle für Mikroplastik im Meer.
Wird weiterhin so viel Reifenstaub produziert, dürften die Schäden schon in wenigen Jahren verheerend sein. Ein durchschnittlicher Reifen verliert während seiner Lebensdauer 4 Kilogramm, jährlich werden insgesamt etwa 6 Millionen Tonnen Reifenpartikel emittiert. Sogar in der Arktis und Antarktis wurden diese schon nachgewiesen. Mit Elektroautos würden die Emissionen nur noch zunehmen, heisst es im Artikel – und zwar wegen tendenziell schwererer Fahrzeuge und des Drehmoments.
In Kalifornien sollen die Reifenhersteller nun verpflichtet werden, sichere Alternativen zu 6PPD zu erforschen. Der US-Verband der Reifenhersteller hat erklärt, diesen Vorschlag zu unterstützen. Die Formeln für ihre Inhaltsstoffe wollen die Hersteller aber nicht offenlegen: Sie argumentieren, dass sie damit ihren Wettbewerbsvorteil verlieren würden.
So schnell baut Paris seine Strassen um
In Paris werden Autos «konsequent zurückgedrängt»: Das sagt Ragnhild Sørensen, Sprecherin der Initiative «Changing Cities» in einem Artikel des RBB anlässlich eines Besuchs der Regierenden Berliner Bürgermeisterin in der französischen Hauptstadt.
Als Frau hinter dem Umbau macht der RBB die sozialistische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo aus. Sie habe die Zeit der Pandemie genutzt, um mit Pop-Up-Velowegen die Verkehrswende zu beschleunigen. Eines der Vorzeige-Projekte sei die Rue de Rivoli, eine rund drei Kilometer lange Achse, an der das Rathaus und der Louvre liegen, die seit eineinhalb Jahren autofrei ist.
Zudem gilt seit einem Jahr abgesehen von der Champs Elysées, den Seine-Uferpromenaden und der Stadtautobahn generell Tempo 30 in Paris. Auf das Jahr 2024 hin soll pünktlich zu den Olympischen Spielen ein faktisches Verbot für Dieselfahrzeuge in der Innenstadt in Kraft treten, zudem soll ein grosser Bereich der City zur verkehrsberuhigten Zone werden.
Freie Bahn sollen dann laut dem RBB nur noch Fussgänger, Velofahrer und der ÖV sowie Lieferwagen haben, der Durchgangsverkehr muss aber draussen bleiben. Im Artikel wird Hidalgo mit einer Aussage zitiert: «Paris im Auto von Westen nach Osten zu durchqueren, ist nicht mehr möglich. Das muss man einfach vergessen.»
Allerdings, so bemerkt der Artikel, ist Hidalgo nur für die Pariser Kernstadt mit ihren gut zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zuständig und nicht für das gesamte Umland, was ihr solche Entscheide erleichtere. Und noch immer sei der Anteil der Velofahrerinnen und Velofahrer in der französischen Hauptstadt eher tief. Der Artikel verweist auch darauf, dass Hidalgo ausdrücklich mit einem Plan für eine lebenswerte Stadt mit weniger Autos wiedergewählt wurde. Was allerdings auch zu erwähnen wäre: Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich schnitt die Pariser Bürgermeisterin sehr schlecht ab und erhielt nur gerade 1,75 Prozent der Stimmen. Wie mehrheitsfähig ihr schnelles Tempo bei der Verkehrswende innerhalb der Bevölkerung ausserhalb der Grossstadt ist, muss deshalb offen bleiben.
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