
In den letzten Jahren stagnierten viele städtische Verkehrsbetriebe bei den Passagierzahlen trotz steigender Bevölkerung und grösserem Angebot. Einige wenige verloren sogar Nutzerinnen und Nutzer, wie eine exklusive Auswertung von Mobimag zeigt. Das sind die Gewinner und Verlierer und das sind die Gründe.
von Stefan Ehrbar
12. September 2023
Eine Metro? Braucht es in der Schweiz nicht, macht in den kleinen Schweizer Städten auch keinen Sinn. Mit diesem Argument ersticken Gegner Diskussionen um den unterirdischen ÖV hierzulande im Keim. Doch eine neue Auswertung zeigt: Recht haben sie damit nicht.
Mobimag hat analysiert, wie sich die Passagierzahlen der grössten städtischen Verkehrsbetriebe der Schweiz – Zürich, Genf, Basel, Lausanne, Bern, Winterthur, St. Gallen und Luzern – seit 2012 entwickelt haben. Das Bild ist eindeutig.
Bis im Jahr 2019 – dem letzten vor der Coronakrise – haben die Lausanner Verkehrsbetriebe TL mit Abstand am meisten zugelegt. Um gut 21 Prozent stiegen ihre Passagierzahlen seit 2012. Gut 122 Millionen Passagiere zählte der Betrieb dann und damit deutlich mehr als die Berner Verkehrsbetriebe Bernmobil in einer ähnlich grossen Stadt.
Den grössten Teil des Wachstums trugen die Lausanner Metro-Linien bei: die U-Bahn-ähnliche M1 zwischen Flon und Renens, die im Jahr 1991 eröffnet wurde, und die M2 zwischen Ouchy und Epalinges. Die M2 nutzten im Jahr 2019 fast 33 Millionen Passagiere, die M1 fast 15 Millionen. Diese beiden Linien alleine machten also 39 Prozent der Passagierzahlen der TL aus. Auf diesen Linien wachsen die Passagierzahlen zudem seit Jahren am stärksten.
Kein anderer Verkehrsbetrieb verzeichnete in dieser Periode ein auch nur annähernd so starkes Wachstum. Mehr noch: Auch während der Coronakrise gingen die Passagierzahlen bei der TL mit Abstand am wenigsten stark zurück. Doch wie schlugen sich die anderen Verkehrsbetriebe?
Ebenfalls eine Zunahme zwischen 2012 und 2019 verzeichnen konnten die Genfer Verkehrsbetriebe TPG mit einem Passagierwachstum von knapp 16 Prozent in dieser Periode.
Danach folgen Stadtbus Winterthur (+12,5%), die Verkehrsbetriebe Luzern (+8,1%), die Verkehrsbetriebe Zürich (+1,4%) und Bernmobil (+1,0%). Gar Nutzerinnen und Nutzer verloren haben in dieser Periode die Verkehrsbetriebe St. Gallen (-1,6%) und die Basler Verkehrs-Betriebe (-3,8%).
Was sind die Gründe für diese höchst unterschiedliche Entwicklung?
- In Lausanne haben die Metro-Linien für den Grossteil des Wachstums gesorgt. Die TL profitieren aber auch davon, dass ihr Netz relativ weit in die Agglomeration hinausreicht, die in den letzten Jahren sehr stark gewachsen ist. Zudem ist die Bahn auf vielen Relationen keine gute Alternative.
- Ähnliche Gründe gelten für die TPG in Genf: Sie haben ein weitverzweigtes Netz auch in der stark wachsenden Agglomeration und kommen in Sachen absolute Passagierzahlen fast an die VBZ heran. Zudem wurde das Netz ausgebaut - etwa mit der Tramlinie 17 im Dezember 2019 oder der Verlängerung der Linie 14 im Jahr 2020. Zudem profitieren die TPG vom neuen S-Bahn-System Léman-Express, wie Direktor Denis Berdoz im Mobimag-Interview sagte: «Die Inbetriebnahme des Léman Express hatte einen Multiplikatoreffekt auf die Fahrgastzahlen unseres Netzes».
- In Winterthur, wo das Plus zwischen 2012 und 2019 gut 12 Prozent betrug und wo die Passagierzahlen schon letztes Jahr wieder über dem Niveau von 2012 lagen, war vor allem das Wachstum der Bevölkerung entscheidend: Von allen sechs Grossstädten mit über 100'000 Einwohnern in der Schweiz legte Winterthur in den letzten Jahren prozentual mit Abstand am meisten zu, nämlich von 106'000 auf über 120'000 Einwohnerinnen und Einwohner. Gleichzeitig wurde auch das Angebot ausgebaut und besser auf die Anschlüsse am Hauptbahnhof ausgerichtet, die zudem häufiger verkehren. So kam etwa der Viertelstundentakt mit der S11 und S12 nach Zürich hinzu, der auch im städtischen ÖV für mehr Passagiere gesorgt haben dürfte.
- Im Mittelfeld folgten die Verkehrsbetriebe Luzern mit einem Plus von 7,8 Prozent zwischen 2012 und 2019. Dort wurden seit 2014 unter anderem Doppelgelenktrolleybusse beschafft, die mehr Kapazität bieten und mit denen das System «Rbus» eingeführt wurde, das hohe Geschwindigkeiten und einen Tram-ähnlichen Komfort bieten soll. Zudem wurden neue Durchmesserlinien geschaffen. Ansonsten allerdings wuchsen die Passagierzahlen in etwa in Einklang mit der Bevölkerung.
- Mit einem Plus von knapp 1,5 Prozent zwischen 2012 und 2019 bei den Passagierzahlen klar unter dem Wachstum der Stadt lagen die Verkehrsbetriebe Zürich - und dies trotz Ausbauten, etwa dem Tram über die Hardbrücke und dem Tram nach Zürich-West. Welche Rolle die Eröffnung der Durchmesserlinie der S-Bahn gespielt hat, ist schwierig abzuschätzen. Diese sorgte für neue attraktive Verbindungen mit der S-Bahn innerhalb der Stadt - etwa von Wollishofen, Enge und Wiedikon in Richtung Zürich Nord, auf denen die VBZ zuvor eine wichtigere Rolle gespielt haben dürften. Allerdings zeigt das Beispiel Genf, dass städtische Verkehrsbetriebe auch von Ausbauten der Bahn profitieren können. Eine Rolle spielen könnte, dass es im Stammnetz der VBZ weder bei den Linien noch beim Takt zu merkbaren Ausbauten gekommen ist, dass zum Teil Eigentrasses abgebaut wurden und dass das Velo mittlerweile einen höheren Anteil hat.
- Dasselbe gilt für die Berner Verkehrsbetriebe Bernmobil: Im Jahr 2021 wurden dort schon 19,2 Prozent der Wege mit dem Velo zurückgelegt - 8,4 Prozent mehr als noch im Jahr 2010, wie CH Media berichtete. Viele Nutzerinnen und Nutzer des ÖV dürften dank dem Ausbau des ÖV auf das Velo gewechselt haben, während dieser gleichzeitig vergleichsweise wenig ausgebaut wurde.
- Bei den Verkehrsbetrieben St. Gallen, die im Jahr 2019 weniger Passagiere transportierten als 2012, zeigte sich bis 2016 eine Abwärtstendenz. Danach nahmen die Passagierzahlen wieder zu, im Jahr 2019 sogar relativ stark. Im Jahr 2019 wurde ein neues Buskonzept eingeführt, das offenbar auf Anklang stiess. Warum die Passagierzahlen zuvor gesunken waren, wusste auch Betriebsleiter Ralf Eigenmann nicht: «Es spielen mehrere Faktoren ineinander. Ich kann aber nicht genau sagen, welche Gründe schliesslich dazu führten», sagte er 2016 dem «St. Galler Tagblatt».
- Mit fast 3,8 Prozent Fahrgastverlust zwischen 2012 und 2019 am schlechtesten da stehen die Basler Verkehrs-Betriebe (BVB). Ein Problem in Basel ist etwa, dass die Trams im Stadtzentrum relativ langsam unterwegs sind. Auch in Basel wurde gleichzeitig die Veloinfrastruktur ausgebaut und der Anteil der Velos nahm zwischen 2010 und 2021 von 15,7 Prozent auf 21,0 Prozent der Wege zu. Die BVB wollen allerdings gegensteuern. Laut der «bz Basel» soll das mit einem dichteren Takt in Randzeiten, Aufhebung von Haltestellen zwecks Beschleunigung, dem Vermieten von Velos und neuen On-Demand-Angeboten geschehen.
In absoluten Zahlen führten auch im Jahr 2022 die Verkehrsbetriebe Zürich die Rangliste an, gefolgt von den TPG. Im Jahr 2020 überholten die TL erstmals die BVB. Schon im Jahr 2013 hatten die TL erstmals Bernmobil überholt.
Sinkende oder nur schwach steigende Passagierzahlen im städtischen öV sind keine Katastrophe. Volle Trams und Busse sind kein selbstzweck, nachdem es zu optimieren gilt. Viele Tranportunternehmen denken aber noch stark in Silos und sehen nur den eigenen Betrieb, als wären sie privatwirtschaftlich organisiert. In den letzten Jahren haben einige Städte damit begonnen, eine Veloinfrastruktur zu planen und zu bauen. Wenn nun nicht nur Autofahrer:innen sondern auch ÖV-Passagiere aufs Velo umsteigen, profitieren alle. Wer zum Beispiel mit dem Kinderwagen unterwegs ist oder nicht mehr lange stehen kann, findet viel eher einen Platz oder gar einen Sitzplatz. Und alle anderen haben ein wenig mehr Luft. Die zusätzlichen Velofahrer bewegen sich mehr und senken unsere Krankenkassenprämien. Ein wenig mehr Bewegung würde uns allen gut tun, deshalb darf es auch kein Tabu mehr sein, Haltestellen aufzuheben, um das Tram zu beschleunigen (Bravo Basel!). Viele in der ÖV-Welt sprechen sich lieber noch immer gegen Tempo 30 aus und wenn Velos auf Busspuren fahren (dürfen) fühlen sie sich bedroht (Looking at you, VBZ). So wird das nichts mit der Verkehrswende. Auch der ÖV muss bereit sein ein klein wenig abzugeben um das städtische Verkehrssystem zu optimieren… Ich hoffe, dass bald eine neue Generation übernimmt die weniger stark von diesem Silodenken geprägt ist.