Jonas Schmid ist Geschäftsführer des Verbands Chacomo, der sich für geteilte Mobilität einsetzt. Im Interview verrät er, warum er für eine Öffnung des Ticket-Vertriebs im ÖV plädiert, wieso er eine ETH-Studie zu Elektro-Trottinetts kritisiert und was er zu den ersten Verboten von E-Scootern in Schweizer Städten sagt.
von Stefan Ehrbar
21. August 2023
Herr Schmid, der Branchenverband Chacomo hat gemäss Internetseite das oberste Ziel, «geteilte Mobilität als vollintegrierter Bestandteil im Verkehrssystem zu verankern». Was muss ich mir konkret darunter vorstellen?
Die Angebote und Geschäftsmodelle der geteilten Mobilität eröffnen vielseitige Perspektiven, unsere Mobilität nachhaltiger und attraktiver zu gestalten. Um diese Potenziale voll auszuschöpfen, brauchts eine bessere Integration auf allen Ebenen: neue Konzepte in der Verkehrsplanung, attraktive regulatorische Rahmenbedingungen und eine optimale Vernetzung der Angebote.
Wie haben sich die Passagierzahlen seither entwickelt? Welche Schritte braucht es für eine solche Integration? Welche Rolle spielt dabei die Integration in bestehende ÖV-Apps und solche von Anbietern wie Mobility?
Die Integration in bestehende öV-Plattformen und -Apps wird mithelfen, den klassischen öffentlichen Verkehr mit der geteilten Mobilität zu vernetzen und mittels Mobility-as-a-Service (Maas) attraktive Alternativen zum Auto im Privatbesitz zu schaffen. Aus Sicht der geteilten Mobilität ist aber wichtig, dass sich neben den öV-Unternehmen auch private Dienstleister mit Mobilitätsplattformen auf dem Markt behaupten können.
Welche Rolle können Apps wie Yumuv spielen?
Yumuv war ein interessantes Projekt, um Shared Mobility- und öV-Angebote auf einer App zusammen zu bringen und verschiedene Produkte zu testen. Für die meisten Anbieter geteilter Mobilität spielen Kooperationen mit multimodalen Vertriebsplattformen aktuell aber eine eher untergeordnete Rolle. Teilweise entwickeln sich Shared Mobility Anbieter durch die Erweiterung ihres Dienstleistungsportfolios selber zu multimodalen Plattformen. Andere suchen gezielt nach Kollaborationen mit anderen Anbietern und vernetzen ihre Dienste und Apps entlang konkreter Anwendungsfälle – ein vielsprechender Ansatz.
Die VBZ, die BVB und Bernmobil wollen zusammen eine Mobilitätsplattform aufbauen. Sind sie mit diesen Akteuren im Gespräch? Wollen sie sich daran beteiligen?
Bis anhin liegen uns noch keine detaillierten Informationen zu diesem Vorhaben vor. Seitens Chacomo haben wir den involvierten Städten und Verkehrsbetrieben unser Interesse signalisiert, mehr über das Projekt zu erfahren und zusammen zu prüfen, wie wir uns als Verband einbringen können.
Braucht es aus ihrer Sicht eine Öffnung der Vertriebsinfrastruktur für Dritte ausserhalb der ÖV-Branche? Wenn ja, wie könnte diese umgesetzt werden?
Eine weitgehende Liberalisierung des Vertriebs für öV-Tickets eröffnet der Shared Mobility effektiv viele Chancen. Sie ist Grundlage für mehr Wettbewerb, Innovation und neue Geschäftsmodelle rund um Mobility-as-a-Service. Mit Blick auf die Angebotsvielfalt können die Kundinnen und Kunden nur gewinnen, wenn zukünftig auch Unternehmen wie Uber öV-Billette verkaufen dürfen. Für die konkrete Ausgestaltung der Öffnung wird es allerdings ein sorgfältig austariertes Regelwerk brauchen.
Die ÖV-Branche gilt zum Teil als eher konservativ und wenig aufgeschlossen gegenüber neuen Angeboten. Erleben sie das auch so?
Nein, im Gegenteil. Wir beobachten in der öV-Branche ein wachsendes Interesse an den neuen Geschäftsmodellen der geteilten Mobilität. Einige Unternehmen des öffentlichen Verkehrs sind ja bereits selber mit kollaborativen Mobilitätsdienstleistungen operativ, zum Beispiel in den Bereichen On-demand-Ridepooling und eBikesharing. Einige dieser öV-Unternehmen engagieren sich auch bereits als Mitglied in unserem Verband.
Für einigen Wirbel gesorgt hat letztes Jahr eine ETH-Studie, die zeigte, dass E-Trottinetts hauptsächlich ÖV-Fahrten und Fusswege ersetzt und nicht Autofahrten. Wie kommentieren Sie diese Studie?
Dass geteilte Mikromobilität in Schweizer Städten kurzfristig vor allem Fusswege und öV-Fahrten ersetzt, ist unbestritten und auch nicht erstaunlich. Was in dieser Studie nicht untersucht wurde, ist, inwiefern geteilte Trottis und Bikes den öV als Gesamtsystem attraktiver machen, indem sie ihn in Spitzenzeiten entlasten, als Zubringer zu Haltestellen dienen und das Angebot in Randzeiten ergänzen.
Hat diese der Akzeptanz der geteilten Mobilität geschadet?
Wir hoffen nicht! Es ist bedauernswert, wenn neue Mobilitätsangebote nur daran gemessen werden, wie viele Autofahrten sie unmittelbar ersetzen. Diese Substitutionseffekte hängen nicht zuletzt auch davon ab, wie gut Sharing-Angebote im Verkehr integriert sind und wie attraktiv es ist, mit dem eigenen Auto unterwegs zu sein. Zudem müssen auch die langfristigen Effekte berücksichtigt werden, wobei sich alle einig sind: Mehr Shared Mobility gleich mehr Mobilitätsoptionen gleich weniger Abhängigkeit vom Autobesitz.
Auch seien Elektro-Trottinette klimaschädlich, heisst es in der Studie. Wie könnte ihre Bilanz verbessert werden?
Wir kritisieren an der ETH-Studie, dass mit bereits veralteten Emissionswerten gerechnet wurde. Eine kürzlich veröffentliche Studie vom Fraunhofer Institut kommt zum Schluss, dass die neusten Generationen von eScootern nicht mehr CO2 pro Personenkilometer verursachen als beispielsweise die U-Bahn. Die Anbieter haben in den letzten drei Jahren effektiv grosse Fortschritte bei der Ökobilanz der Fahrzeuge erzielt. Die wichtigste Rolle spielt dabei eine möglichst hohe Lebensdauer der Trottis und die Reduktion der Emissionen des Flottenmanagements.
Wie kann geteilte Mobilität konkret einen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel leisten?
Indem sie uns ermöglicht, für jeden Weg situativ das jeweils sinnvollste Verkehrsmittel einzusetzen und damit ohne Überkapazitäten unterwegs zu sein. Neben dem guten öV-Angebot ist Shared Mobility für viele Haushalte in der Schweiz der Schlüssel zu einer Mobilität ohne eigenes Auto.
Wie kann ein gutes Zusammenspiel mit dem ÖV entstehen?
Wenn wir die vielfältigen Möglichkeiten der geteilten Mobilität voll ausschöpfen, um den klassischen öffentlichen Verkehr zu ergänzen und zu veredeln. Das bedingt neben der vertrieblichen und digitalen Integration auch ausreichend Flächen für geteilte Mobilität an Bahnhöfen und Haltestellen.
Vertreter des Langsamverkehrs und auch Blindenverbände ärgern sich über E-Trottinetts, E-Bikes und ähnliche Sharing-Angebote: Oft versperrten die Fahrzeuge das Trottoir. Wie liesse sich das verhindern?
Dieser Ärger ist nachvollziehbar. Aus unseren Gesprächen mit Städten und Anbietern nehmen wir mit, dass sich die Situation bereits substanziell verbessert hat. Massnahmen wie die Sensibilisierung der Nutzerinnen und Nutzer und die Bestimmung von Parkverbotszonen mithilfe digitaler Tools haben schon viel geholfen. In Zukunft werden Parkassistenz-Systeme der Anbieter die Nutzerinnen und Nutzer darin unterstützen, die Fahrzeuge zentimetergenau dort abzustellen, wo sie nicht stören.
In ihrem Verband sind sowohl Anbieter wie Mobility als auch Voi oder die BLT vertreten mit sehr unterschiedlichen Interessen. Welche politischen Positionen und Forderungen teilen sie alle?
Es gibt in der Tat ein breites Feld von Positionen und Interessen, die alle unsere Mitglieder teilen. Sie sind in unserem 10-Punkte-Plan zusammengefasst und reichen von der Flächenthematik, über die zukünftige Finanzierung des Verkehrs bis hin zur Forderung nach mehr Forschung.
Mit Wetzikon hat die erste Stadt E-Trottinette verboten. Fürchten sie, dass weitere folgen?
Wetzikon ist die erste Stadt, die nach einem Pilotprojekt wieder ausgestiegen ist. Fehlende Zulassungen für geteilte Trottis gibt es aktuell in zahlreichen Städten. Positiv ist, dass Wetzikon das Angebot getestet hat, ohne es von vornherein auszuschliessen. Laut den beteiligten Anbietern war der Testlauf in Wetzikon nachfrageseitig ein Erfolg. Bei der Stadt scheint man die Beschwerden über falsch geparkte Trottis aber höher gewichtet zu haben. Andere Städte kommen mit der Parkproblematik schon relativ gut zurecht.
Offenbar haben sich ältere Befragte in einer Umfrage gegen diese Art von Mobilität ausgesprochen. Ist Mikromobilität nur etwas für Jüngere?
Erhebungen zeigen, dass geteilte eScooter heute vor allem Menschen unter 30 ansprechen. Zudem sind die Nutzerinnen in der klaren Minderheit. Die Kundenbasis wird sich in den nächsten Jahren sicherlich weiterentwickeln. Fahrzeugseitige Entwicklungen und die Verbesserung der Infrastruktur und damit der Verkehrssicherheit sind dabei entscheidende Faktoren.
Schweizer tun sich oft eher schwer damit, Fahrzeuge zu teilen. Das hat sich zuletzt auch auf dem Suurstoffi-Areal in Risch gezeigt, wo die Bilanz zum Projekt „Sorglos mobil“ eher ernüchternd ausfällt. Wie könnte diese „mentale Blockade“ abgebaut werden?
Ich denke nicht, dass es eine eigentliche «mentale Blockade» gibt. Es ist einfach ein Fakt, dass unter den gegebenen Umständen das Auto im Privatbesitz für viele Menschen hinsichtlich Komfort schwer zu toppen ist. Zudem sind wir in Sachen Mobilität Gewohnheitstiere. Sharing wird in den nächsten Jahren zulegen, wenn wir die Angebote weiter ausbauen und wenn durch verkehrspolitische Instrumente die Anreize entsprechend gesetzt werden. Langfristig werden automatisierte Fahrzeuge neuartige Möglichkeiten für das Teilen von Fahrten von Tür zu Tür eröffnen.
Braucht es aus ihrer Sicht eine stärkere Förderung der geteilten Mobilität? Wie könnte diese aussehen?
Viele Geschäftsmodelle funktionieren grundsätzlich eigenwirtschaftlich, sind aber auf gute Rahmenbedingungen angewiesen. Ein zentrales Element für viele Anbieter sind attraktive Konditionen bei der Nutzung des öffentlichen Raums. Die Vernetzung mit bestehenden Angeboten des öffentlichen aber auch des individuellen Verkehrs ist eine weitere Stossrichtung. Natürlich können Städte und Gemeinden auch viel in Sachen Förderprojekte, Information und Sensibilisierung tun, um das Thema voranzubringen.
Braucht es gar eine gesetzliche Pflicht – z.B. für Sharing-Autos in grossen Überbauungen?
Das ist wohl gar nicht nötig, weil es für Bauherrschaften und Genossenschaften heute bereits gute ökonomische Gründe gibt, ein attraktives Carsharing-Angebot bereitzustellen. Wichtiger ist, dass Bauherrschaften die vom Gesetz geforderte Anzahl privater Parkplätze unterschreiten dürfen, wenn sie Angebote wie Carsharing miteinplanen. Hierfür müssen wir dringend zeitgemässe Konzepte für die Integration von Shared Mobility-Angeboten in Siedlungen entwickeln.
Geteilte Mobilität tut sich oft auch auf dem Land schwer. Welche Rezepte sind dort besonders vielversprechend?
Eine ganze Palette! So haben sich in der Schweiz in den letzten Jahren einige Anbieter erfolgreich auf eCarsharing in kleinen Gemeinden spezialisiert. On-demand-Angebote des öV und privater Anbieter werden zunehmend klassische Linienbetriebe ersetzen, weil sie sowohl mehr Komfort für die Kundinnen und Kunden als auch ökonomische Vorteile für die öffentliche Hand bringen. Auch eScooter-Sharing stösst bereits heute immer mehr in die Agglomerationsränder und eher ländlich geprägten Zentren vor.
Welche Erfolge kann ihr Verband bereits verbuchen?
Da gibt es schon ein paar Success Stories in unserer erst 15 Monate alten Verbandsgeschichte! Was uns besonders freut, ist, dass wir mit Nationalrat Philipp Kutter einen sehr kompetenten und bestens vernetzten Verkehrspolitiker als Präsidenten gewinnen konnten. Weitere Erfolge für uns sind, dass wir uns aktiv bei der Ausgestaltung der Nationalen Dateninfrastruktur NADIM einbringen können und in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Energie ein Programm zur Marktbeschleunigung lanciert haben – den «Shared Mobility Accelerator». Ein erstes Produkt aus diesem «Accelerator» ist ein systematisches Marktmonitoring für geteilte Mobilität – Pionierarbeit mit Ausstrahlung über die Schweiz hinaus!
Wie bewegen Sie sich selbst fort?
Im Alltag per eBike im Privatbesitz, in anderen Städten oft mit geteilten Velos, Trottis und Cargo-Bikes, in den Ferien meist mit unserem Camper, den wir über eine Sharingplattform mit anderen teilen.
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