VBG-Direktor Matthias Keller: «Es darf auch einmal ein Projekt beerdigt werden»

VBG-Direktor Matthias Keller. Bild: zvg

Matthias Keller ist Direktor der Verkehrsbetriebe Glattal, die mit 52 Bus- und 2 Tramlinien für den öffentlichen Verkehr in einem grossen Teil des Kanton Zürich verantwortlich sind. Im Interview verrät er, welche Projekte auf der «Innovationslinie» getestet werden und was er aus dem vergangenen Winter mit langen Ausfällen gelernt hat.

von Stefan Ehrbar
29. September 2021


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Herr Keller, Die VBG sind in einem Umfeld mit vielen Dienstleistungsbetrieben und rund um den Flughafen Zürich tätig – zwei Faktoren, die für einen deutlichen Passagierrückgang geführt haben dürften. Leiden die VBG wegen dieser Struktur ihres Einzugsgebiets stärker als andere Verkehrsbetriebe?
Praktisch sämtliche Verkehrsbetriebe verzeichneten im letzten Jahr einen Rückgang bei den Passagierzahlen. In den Regionen Volketswil, Effretikon und Furttal bewegen wir uns im Durchschnitt des Zürcher Verkehrsverbundes (ZVV). Aufgrund der beiden von Ihnen erwähnten Faktoren war die VBG insbesondere in der Flughafenregion aber überdurchschnittlich stark betroffen. Bei dieser Gelegenheit ist es mir wichtig, mich bei allen unseren Fahrgästen, die nach dieser schwierigen Zeit wieder zu uns zurückkehren, für ihre Treue zu bedanken! Immerhin, ein positiver Nebeneffekt hatte diese Zeit: Aufgrund der Umstände konnten wir sogar unsere bereits hohen Pünktlichkeitswerte nochmals weiter verbessern.

Wo stehen Sie derzeit in Sachen Kapazität?
Die aktuelle Auslastung der Fahrgastzahlen liegt zurzeit bei durchschnittlich 80 Prozent im Vergleich zu 2019. Bis Ende Jahr erwarten wir einen Anstieg bis rund 85 Prozent.


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Mit welcher Erholungszeit rechnen Sie aktuell?
Das Passagieraufkommen nimmt kontinuierlich, aber langsam zu. Wir rechnen damit, dass die Werte von 2019 voraussichtlich erst im Jahr 2024 wieder erreicht werden. Das ist allerdings lediglich eine Prognose, eine zuverlässige Einschätzung ist aufgrund der verschiedenen Einflussfaktoren – zum Beispiel die Entwicklung der Pandemie, aber auch die Etablierung des Homeoffice – sehr schwierig.

Der Kanton Graubünden will die Zertifikatspflicht auch für den ÖV prüfen. Wie stehen Sie dazu?
Zur Handhabung in anderen Regionen sowie bei anderen Verkehrsunternehmen nehmen wir keine Stellung, denn wir können die unterschiedlichen regionalen und betrieblichen Situationen nicht beurteilen. Das bisherige Schutzkonzept im öV hat sich aus unserer Sicht bewährt und wird auch von den Fahrgästen im Durchschnitt sehr gut mitgetragen. Eine Zertifikatspflicht im öV erachten wir unter den aktuellen Umständen als nicht nötig.

Auf ihrer Linie 759 fährt seit kurzem ein eCitaro, am Flughafen wurde ein Ladesystem von Siemens aufgebaut. Wie lautet ein erstes Fazit?
Genau. Die VBG hat ihren ersten Elektrobus am 1. September in Betrieb genommen. Bis jetzt verläuft es im Rahmen der Erwartungen und wir erhalten viel positives Feedback von den Fahrgästen. Insbesondere das Ladesystem am Flughafen Zürich mit dem absenkbaren Pantografen an der Lade-Stele geniesst in der Fachwelt ein grosses Interesse. Für ein fundiertes Fazit zum Pilotversuch ist es aber noch zu früh.


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Bis wann wird die VBG-Flotte komplett elektrisch unterwegs sein?
Bei erfolgreichem Pilotbetrieb des ersten Elektrobusses auf der «Innovationslinie 759» soll die gesamte Linie im Jahr 2023 mit Elektrobussen ausgestattet sein. Generell ersetzen wir aus Ressourcengründen jeweils nur Dieselbusse, die am Ende ihrer Betriebszeit angelangt sind. Die anschliessende Umrüstung der gesamten VBG-Flotte hängt auch von verschiedenen externen Faktoren ab. Die Dekarbonisierungsstrategie des ZVV sieht vor, dass die Treibhausgasemissionen der Busflotten bis 2035 halbiert werden und der Busbetrieb ab 2040 im gesamten ZVV keine Treibhausgasemissionen mehr verursachen wird. Dies ist auch der Zeitplan für die VBG.

Die Linie 759 gilt wie erwähnt als «Innovationslinie» der VBG. Welche Erkenntnisse konnten Sie aus bisherigen Projekten ziehen, die nun auch im regelmässigen Betrieb in den Einsatz kommen?
Die VBG will mit der «Innovationslinie 759» marktfähigen Produkten eine Testumgebung bieten, in der diese in der Realität getestet werden können. Damit wollen wir einen wesentlichen Beitrag zu einem noch kundenfreundlicheren, umweltverträglicheren sowie effizienteren öffentlichen Verkehr im Kanton Zürich leisten. Da es sich um ein Feldlabor für neuartige Ideen und Produkte handelt, darf auch einmal ein Projekt wieder beerdigt werden, ohne dass die Innovationslinie in Frage gestellt wird. Der «Pioniergeist» ist uns hier sehr wichtig. Neben dem Elektrobus testen wir ab Oktober auch neue, innovative Haltestellen-Stelen. Noch ist aber keines dieser Pilotprojekte weit genug fortgeschritten, um die Erkenntnisse in den regulären Betrieb einfliessen lassen zu können.

Im Glattal ist der Anteil des ÖV deutlich tiefer als in der Stadt Zürich – gemäss den letzten Zahlen des Kanton Zürich liegt er bei 12% der zurückgelegten Wege (Stadt Zürich: 32%). Worauf führen sie diese grossen Unterschiede zurück?
Im städtischen Gebiet mit einer hohen Bevölkerungsdichte ist die Nachfrage immer höher. Dies ermöglicht auch wieder ein dichteres Verkehrsnetz und einen dichteren Takt, was sich wieder positiv auf die Nachfrage auswirkt. Das Glattal ist eine Region mit einem stark ausgeprägten Agglomerationscharakter mit auch vielen kleineren Ortschaften. Zudem erstreckt sich das Marktgebiet der VBG über das Glattal hinaus bis in sehr ländliche Regionen. Die Nachfrage ist hier automatisch tiefer. Viel wichtiger als ein dichter Takt sind in diesen Gebieten gut abgestimmte Anschlüsse von und zu den S-Bahnen.

Wie lässt sich der Modal Split auch in den Agglomerationen wie dem Glattal erhöhen? Welche Rolle spielen die Frequenzen, die Preise und die Betriebszeiten?
Der öffentliche Verkehr muss im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern attraktiver sein; dies vor allem durch eine ansprechendere oder sogar höhere Reisegeschwindigkeit als der motorisierte Individualverkehr (MIV) und durch seine Terminierbarkeit, sprich Pünktlichkeit. Dies erreichen wir unter anderem durch Verkehrsflächen an neuralgischen Stellen, die ausschliesslich dem Bus oder dem Tram vorbehalten sind. Neben der höheren Reisegeschwindigkeit sind damit auch zuverlässigere Anschlüsse möglich. Die Glattalbahn ist dafür sicher ein Vorzeigebeispiel. Sie hat die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs im Glattal sowie auch den Modalsplit erhöht und die dynamische Entwicklung mit ermöglicht. Es gilt aber, am Ball zu bleiben, etwa mit der geplanten Verlängerung der Glattalbahn und der Realisierung von Busbevorzugungsmassnahmen.

Die Glattalbahn wird nach Kloten verlängert. Ab 2029 könnte der Betrieb auf der neuen Strecke aufgenommen werden. Ist diese Planung nach wie vor aktuell?
Ja, diese Terminprognose ist nach wie vor gültig. Zurzeit erarbeiten wir das dreiteilige Bauprojekt, das nicht nur die Glattalbahn-Verlängerung beinhaltet, sondern auch den Hochwasserschutz in Kloten und für den Flughafen verbessert und eine durchgehende, sichere und attraktive Velohauptverbindung zwischen Bassersdorf und dem Flughafen schafft.


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Was erhoffen Sie sich von der Verlängerung?
Die Glattalbahn-Verlängerung vom Flughafen Zürich bis ans andere Ende der Stadt Kloten verbessert die verkehrliche Erschliessung innerhalb der gesamten Stadt Kloten sowie aber auch zur ganzen Region. Gleichzeitig wird dadurch die regionale Siedlungsentwicklung und die Transformation des Klotener Steinacker-Quartiers gefördert, ja erst ermöglicht.

Auch eine Verlängerung nach Dübendorf wird diskutiert. Wann könnte diese nach jetzigem Stand umgesetzt werden?
Dazu verweisen wir auf den Strategiebericht des ZVV (Seite 38, Anm.). Aktuell ist die VBG mit der Erarbeitung des Bauprojekts zur Glattalbahn-Verlängerung Kloten durch die Volkswirtschaftsdirektion und die Baudirektion des Kantons Zürich beauftragt. Die weiteren Umsetzungszeitpunkte künftiger Etappen leiten sich aus dieser Strategie ab.

Die Gemeinden rund um den Flughafen wollen den Verkehr unter dem Titel «Airport City» neu organisieren und den Veloverkehr stärken, aber auch neue Parkhäuser bauen (Mobimag berichtete). Wie sind die VBG in diese Projekte involviert?
Als öffentliches Verkehrsunternehmen ist die VBG bei der Planung der «Airport City» nicht direkt involviert. Wir stehen aber in engem Kontakt mit den involvierten Gemeinden und Städten, um die optimale öV-Anbindung auch in der Umgebung der «Airport City» sicherzustellen.

Die VBG sind zwar marktverantwortliches Unternehmen, besitzen aber selber keine Fahrzeuge. Auch die Glattalbahn wird von den VBZ betrieben. Ist das nach wie vor das richtige Modell – oder müsste es mit dem weiteren Ausbau des Netzes und des Fahrplans überdacht werden?
Jedes Modell hat seine eigenen Vor- und Nachteile. Die Organisationsform der VBG hat sich etabliert und bewährt. Sie ermöglicht es uns sowie unseren Partnern, sich auf die jeweiligen Kernkompetenzen zu konzentrieren. Ein wesentlicher Vorteil der VBG ist die Nähe zu den Gemeinden und zu Projekten der Region. Diese Nähe ist sehr wichtig, um die Bedürfnisse unserer Kunden optimal zu verstehen und die entsprechenden Lösungen richtig umzusetzen.

Ist es für die VBG auch denkbar, in weitere Mobilitätsformen zu investieren (z.B. Sharing-Angebote für E-Bikes)?


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Für die VBG sind solche Ideen – auch zuerst im Rahmen des Feldlabors auf der Innovationslinie 759 – sicherlich denkbar. Entschieden werden solche Themen aufgrund der nötigen Finanzierung immer in Zusammenarbeit mit dem ZVV.

Werden auf der Glattalbahn künftig auch Flexity-Trams zum Einsatz kommen oder bleibt es bei den Cobras?
Die VBG-Cobras, die für uns im Einsatz sind, sind in einem sehr guten Zustand. Sie erfüllten von Anfang an das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) und haben das Ende ihrer Lebensdauer noch nicht erreicht. Je nach betrieblicher Situation ist es aber möglich, dass in Ausnahmefällen Flexity-Trams auf den Linien der Glattalbahn eingesetzt werden, wie es auch möglich ist, dass VBG-Cobras auf Linien in der Stadt Zürich verkehren.

Im Winter war die Linie 12 während mehreren Tagen nicht befahrbar wegen zu viel Schnee. Was unternehmen Sie, dass sich das nicht wiederholt?
Vom vielen Schnee ausserordentlich betroffen waren unsere beiden Viadukte Balsberg und Glatt. Auf diesen Viadukten konnte der Schnee nicht einfach zur Seite geschoben werden, da sonst darunterliegende Infrastruktur wie Autobahn und Bahnstrecken beeinträchtigt worden wären. Zudem waren die Räumungsarbeiten aufgrund der sehr grossen Schneemengen aussergewöhnlich zeitaufwändig. Wir haben in einem Workshopverfahren die Erkenntnisse zusammengetragen und daraus die Massnahmen für kurz, mittel- und langfristig definiert. Damit wollen wir künftig bei einem ähnlichen Ereignis die Ausfallzeit sehr deutlich reduzieren.

Wie bewegen Sie sich selbst fort?
Ich bewege mich fast ausschliesslich mit dem öV, zu Fuss und mit dem Velo fort. Natürlich gibt es aber auch in meinem Leben der Fall, wo das Auto das richtige Transportmittel ist. In diesem Fall leihe ich mir etwa drei- bis viermal im Jahr ein passendes Mobility-Auto aus.


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