SBB-Chef Vincent Ducrot plädiert für einen Paradigmenwechsel beim Bahnausbau. Er will die bestehende Infrastruktur besser nutzen und beim Ausbau auf die Bremse treten. Dafür könnte das Knotenprinzip aufgeweicht werden, schreibt er in ein einem Manifest. Voraussetzung dafür wäre der 15-Minuten-Takt fast überall.
von Stefan Ehrbar
25. März 2024
Vincent Ducrot erhält Geschenke, die er am liebsten gleich wieder zurückgeben würde. Im Monatstakt beschliessen Parlamentarier derzeit neue Ausbauten für die Bahn, zuletzt etwa einen 1,3 Milliarden Franken teuren Tunnel auf der Linie Genf–Lausanne. Der SBB-Chef freut sich nicht darüber: Zusehends verzweifelt ruft er zum Innehalten auf, zuletzt an der Präsentation der Jahreszahlen der SBB am Montag vor einer Woche. Die Bahn komme «an die Grenzen des Machbaren», warnt Ducrot.
Die Situation ist paradox. Die Beträge für den Unterhalt der Infrastruktur, die der Bund in jeweils vierjährigen Leistungsvereinbarungen festlegt, reichen laut dem Bahnchef bald nicht mehr aus. «Schon heute erlauben uns die Mittel nur noch knapp, den Substanzerhalt zu garantieren, und der Rückstand steigt, was für die Zukunft besorgniserregend ist», heisst es in einem Papier, das Ducrot zusammen mit Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar verfasst hat – was der Bund gegenüber CH Media bestreitet. Wenn die Infrastruktur nicht jedes Jahr ausreichend erneuert werde, «kommen wir in eine Situation wie in Deutschland», warnt Ducrot.
Gleichzeitig fliesst so viel Geld in neue Projekte wie nie. Das führt zu Problemen. «Die Folgekosten werden in der Politik immer vergessen», sagt Ducrot. Wenn ein neuer Tunnel gebaut wird, werden dafür nach der Inbetriebnahme Jahr für Jahr hohe Beträge für den Unterhalt fällig – Gelder, die dem Bahnchef schon heute fehlen.
Bald kann die SBB die Ausbauten nicht mehr stemmen. Letztes Jahr konnten sie ein Bauvolumen von etwa 3,3 Milliarden Franken umsetzen. Bis ins Jahr 2040 wollen sie das unter laufendem Betrieb machbare Volumen auf jährlich etwa 4 Milliarden Franken steigern. Doch nach dem Willen des Parlaments soll so viel schon 2029 verbaut werden.
Je mehr gebaut wird, desto mehr Baustellenfahrpläne mit Umleitungen, zusätzlichen Umsteigevorgängen und längeren Fahrzeiten gibt es. Darauf müssen sich Reisende nun für eine lange Zeit einstellen. Das zeigt sich etwa am immer grösser gewordenen Ausbauschritt 2035, der mit seinen Ausbauten den Viertelstundentakt zwischen Zürich und Bern, Genf und Lausanne, Luzern und Zürich oder Bern und Freiburg bringen soll. Seine Fertigstellung wird sich laut dem Bund um bis zu fünf Jahre verzögern, was der SBB «realistisch erscheint». Bis Ende der 30er-Jahre dürfte auf dem hiesigen Schienennetz deshalb sowieso in grossem Stil gebaut werden.
Schon 2026 soll das Parlament aber über den nächsten Ausbauschritt entscheiden, in dem der Durchgangsbahnhof Luzern, das Basler Herzstück oder ein neuer Tunnel zwischen Zürich und Aarau beschlossen werden könnten. «Die Entscheide gilt es mit Augenmass zu treffen», appellieren Ribar und Ducrot.
«Wir müssen den Mut haben, das Bahnsystem konsequent zu überdenken und neu zu gestalten auf Basis der bestehenden und beschlossenen Infrastruktur», heisst es in ihrem Papier. Die Infrastruktur müsse besser genutzt werden. Zudem soll das Knotenprinzip aufgeweicht werden, nach dem Reisende in grossen Bahnhöfen wie Bern, Zürich HB oder Basel SBB immer zur halben oder vollen Stunde von allen Richtungen Anschlüsse haben. Erreicht werden soll das, indem der Viertelstundentakt zum Standard wird.
Je öfter Züge fahren, desto weniger wichtig werden die Anschlüsse, da die Wartezeiten gering sind. «Wie bei einer Sesselbahn» komme dann ständig ein Zug, versprechen Ducrot und Ribar. Dafür brauche es keine neue Infrastruktur: Dank einer Systematisierung des Angebots und der Harmonisierung der Geschwindigkeiten «können wir auf teure Infrastrukturen für wenige Sekunden Fahrzeitgewinne verzichten». Die Züge sollen also nicht schneller fahren, eher im Gegenteil. Reisezeiten sollen kürzer werden, weil man weniger lange warten muss.
Das werde nicht gehen ohne einen «Paradigmenwechsel», sagt Ducrot. Künftig soll auch einmal ein alternatives Verkehrsmittel wie eine Tramlinie gebaut werden, statt die Gelder in das Bahnnetz zu investieren. Dafür aber müsse man auch über die Methodik bei der Finanzierung diskutieren. «Heute gibt es ein falsches Anreizsystem», sagt Ducrot.
Ausbauten der Bahn werden vom Bahninfrastrukturfonds (BIF) des Bundes finanziert, den die Kantone nur zu einem geringen Teil mitfinanzieren. Wollen sie hingegen ein Tramprojekt umsetzen, müssen sie und die Gemeinden dieses zu einem grossen Teil selbst bezahlen. Der Bund beteiligt sich dann maximal mit 40 Prozent an den Kosten.
Eine Lösung könnte sein, dass auch Tram-Ausbauten künftig via BIF finanziert werden. Sie können die Bahn wirksam entlasten. Die neue Limmattalbahn zwischen Spreitenbach AG und Zürich-Altstetten übertrifft beispielsweise alle Erwartungen. Die zwei Linien der Glattalbahn im Kanton Zürich zählen ohne die innerstädtischen Abschnitte 9 Millionen Passagiere jährlich, und Basel hat mit den grenzüberschreitenden Tramlinien 3 nach Saint-Louis und 8 nach Weil am Rhein gute Erfahrungen gemacht. Ob ein Systemwechsel aber auch im Parlament Erfolg hat, ist offen – und bis dahin dürfte es noch viele neue Ausbauten beschliessen.
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