So dicht muss ein Takt sein, damit Passagiere nicht mehr auf den Fahrplan schauen 🆓

Ob Passagiere auf den Fahrplan schauen, ist von vielen Faktoren abhängig. Bild: Mobimag

Wann fährt mein nächster Bus? Dank dem Taktfahrplan wissen das viele auswendig und richten sich danach. Anders sieht es in Städten aus. Dort fahren Busse und Trams häufiger. Viele Pendler laufen zur Haltestelle, ohne den Fahrplan zu kennen. Schliesslich mĂĽssen sie sowieso nur ein paar Minuten warten. Doch wie häufig mĂĽssen Busse und Trams tatsächlich fahren, damit Ă–V-Nutzer nicht mehr auf den Fahrplan schauen? Das haben Schweizer Forscher untersucht. 

von Stefan Ehrbar

Eine ETH-Seminararbeit aus dem Jahr 2005 beantwortet diese Fragen. Verfasst wurde sie von Marco LĂĽthi, heutiger Direktor der Sihltal ZĂĽrich Uetliberg Bahn (SZU) und ab April Direktor der Verkehrsbetriebe ZĂĽrich (VBZ). Damals arbeitete LĂĽthi als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ETH ZĂĽrich. 

Seine Arbeit trägt den Titel «Abhängigkeiten zur zeitlichen Verteilung des Fahrgastzuflusses an Haltestellen». Lüthi hat untersucht, ob Fahrgäste zufällig, also unabhängig vom Fahrplan, an Haltestellen ankommen oder ob sie die Abfahrtzeit ihres Kurses kennen und gezielt zur rechten Zeit ankommen. Als Einflussfaktoren listet er unter anderem den Takt, die Pünktlichkeit, die Tageszeit, die Merkbarkeit des Fahrplans oder das Wetter auf.

«Die Studie basiert auf Erhebungen, welche im Jahr 2005 gemeinsam mit Prof. Dr. Ulrich Weidmann und Studenten des Instituts für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich gemacht wurden», sagt Lüthi zu Mobimag. «Das waren aufwändige manuelle Erhebungen. Mir ist keine vergleichbare aktuelle Studie bekannt.»


An verschiedenen Haltestellen hat Lüthi in seiner Arbeit sowohl gemessen, wann die Fahrgäste ankommen, als auch Befragungen durchgeführt. Er hat sich auf Haltestellen fokussiert, an denen kein Umsteigen stattfindet, das die Resultate verfälschen könnte. Zudem musste die Regelmässigkeit des Takts gegeben sein, und in der Umgebung durften sich keine Anziehungspunkte wie Schaufenster befinden. In der morgendlichen Stosszeit hat Lüthi vor allem Haltestellen in Wohngebieten untersucht, am Abend solche im Bereich der Innenstadt oder Orte mit vielen Arbeitsplätzen.

Die Ergebnisse der Messung in der morgendlichen Stosszeit zeigten dabei:

  • Bei einem Takt von 15 Minuten (900 Sekunden) kamen die meisten Fahrgäste gezielt zur Haltestelle.
  • Dasselbe galt fĂĽr einen Takt von 10 Minuten (600 Sekunden).
  • Bei einem Takt von 7,5 Minuten – dem ĂĽblichen Takt von Bus- und Tramlinien in der Stadt ZĂĽrich – kamen die Fahrgäste zufällig an. Sie dĂĽrften also nicht mehr auf den Fahrplan geschaut haben.

Lüthi hat den Anteil der gezielt ankommenden Fahrgäste berechnet, also jene, die auf den Fahrplan schauen. Dabei zeigte sich:

  • Bei einem 7,5-Minuten-Takt kamen etwa 25 Prozent der Fahrgäste gezielt an. Das Vertrauensintervall reicht dabei von etwa 15 Prozent bis etwa 50 Prozent. Anders ausgedrĂĽckt: Bei einem 7,5-Minuten-Takt schaut mindestens die Hälfte der Passagiere nicht mehr auf den Fahrplan.
  • Bei einem 5- Minuten-Takt kamen etwas mehr als 20 Prozent der Fahrgäste gezielt an, das Vertrauensintervall reichte von etwa 17 bis maximal 40 Prozent.
  • Bei einem 15-Minuten-Takt hingegen kamen ĂĽber 90 Prozent der Fahrgäste gezielt an, orientierten sich also am Fahrplan. Das Vertrauensintervall reichte von 80 bis 100 Prozent.

LĂĽthi konnte in seiner Arbeit auch aufzeigen, dass der Anteil der gezielt ankommenden Fahrgäste abhängig von der Tageszeit ist. Das zeigen Messungen an Haltestellen, an denen Busse in einem 6,7-Minuten-Takt verkehren, wie das etwa auf einigen Linien in ZĂĽrich in den Stosszeiten der Fall ist. 

Am Morgen kamen 42 Prozent der Pendler gezielt an, schauten also selbst bei diesem dichten Takt auf den Fahrplan. In der abendlichen Stosszeit hingegen betrug dieser Anteil nur noch 10 Prozent. Eine Erklärung dafür wäre, dass Menschen morgens immer zur selben Zeit bei der Arbeit erscheinen und den Fahrplan dafür genau kennen. Abends aber verlassen sie ihren Arbeitsort unregelmässig – und orientieren sich dabei zumindest bei einem solch dichten Takt nicht mehr am Fahrplan.

Eine Präsentation zur Seminararbeit findet sich online hier: Link zur Präsentation auf ethz.ch.

Ob die Resultate noch 1:1 auf die heutige Situation übertragbar sind, ist unklar. Lüthi sagt dazu: «Die Auswirkungen der Digitalisierung wie Fahrplanapps oder Online-Informationssysteme auf die Ankunftsverteilung kann ich nicht beurteilen. Das müsste neu erhoben werden und wäre eine spannende Aufgabenstellung, an deren Resultaten ich auch interessiert wäre.»

Ebenfalls untersucht hat das Thema der heutige ETH-Prorektor Ulrich Weidmann in seinem Buch «Bahninfrastrukturen: Planen – entwerfen – realisieren – erhalten». Vereinfacht lässt sich das Verhalten laut Weidmann in drei Bereiche unterteilen:

  • Bei einer Taktfolge von 5 Minuten oder weniger strömen die Fahrgäste unabhängig vom Fahrplan zu den Haltestellen.
  • Bei einem Takt von 5 bis 15 Minuten ist ein «hybrides Verhalten» sichtbar: Je merkbarer der Takt ist, desto höher ist der Anteil fahrplanorientierter Fahrgäste. Ein 10-Minuten-Takt, bei dem die Abfahrten beispielsweise immer um xx.10, xx.20 etc. liegen, ist besser merkbar als ein 7,5-Minuten-Takt.
  • Bei einem Takt von ĂĽber 15 Minuten orientieren sich die Fahrgäste am Fahrplan. Sie kommen so an, dass sie durchschnittlich vier Minuten auf ihr Verkehrsmittel warten mĂĽssen.

Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse, dass der Fahrplan je unwichtiger ist, je häufiger Trams und Busse verkehren. In grossen Städten mit dichtem Takt hat der Fahrplan deshalb eine weniger wichtige Funktion, stattdessen stehen die Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit im Vordergrund.


Von dieser Überlegung liessen sich auch die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ), die Basler Verkehrsbetriebe und Bernmobil leiten, als sie 2017 ein Projekt zur «Automatisierung der Betriebszustände» ankündigten. Die Idee war, zusammen mit Trapeze, dem Lieferanten der Leitsystemsoftware, eine Lösung zu entwickeln, die Abweichungen in der Taktfolge erkennt und Busse entsprechend steuert, dass sie möglichst regelmässig verkehren. Das hätte in gewissen Situationen aber den Verzicht auf die Einhaltung des Fahrplans bedeutet. «Künftig soll, wenn es die Verkehrslage erfordert, mehr dem Takt Beachtung geschenkt werden als der Einhaltung des Fahrplans», schrieben die VBZ. Seither hat sich allerdings nicht mehr viel getan, das Projekt scheint versandet. VBZ-Direktor Guido Schoch distanzierte sich gar davon. Dabei täte es durchaus Not: Die Trolleybusse waren in Zürich im Jahr 2018 nach den Massstäben der VBZ zu über 20 Prozent verspätet, die übrigen Busse in 15 Prozent der Fälle. Ein stabiler Fahrplan sieht anders aus.



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