Michael Hermann: «Wenn etwas die Stadtentwicklung vorantreibt, ist es das Tram»

Das Tram sorgt für städtisches Ambiente. Bild: Melina Kiefer / Unsplash

Agglomerationsgemeinden wandern politisch nach links. Doch städtisch werden sie deswegen nicht. «Sie sind eher Aussenquartiere», sagt der Politgeograph Michael Hermann. Das könne sich aber ändern – vor allem, wenn eine Tramverbindung gebaut werde. Denn dieses Verkehrsmittel ändere auch viele Strukturen.

von Stefan Ehrbar
19. März 2021

In den sechs Schweizer Grossstädten Zürich, Genf, Basel, Lausanne, Bern und Winterthur wohnt ein immer kleinerer Anteil der Schweizer Bevölkerung. Von 14,5 Prozent im Jahr 2000 sank er auf zuletzt 14,2 Prozent. Dafür wächst die Agglomeration überdurchschnittlich stark. Dabei spielt der Verkehr eine wichtige Rolle: Nicht nur erschliessen Busse, Trams und S-Bahnen die Gemeinden ausserhalb der Städte und sorgen so erst für ihre Attraktivität. Sie verändern auch das Lebensgefühl und gar die politischen Haltungen.

Das zeigte sich zuletzt bei der Konzernverantwortungsinitative, über die im November 2019 abgestimmt wurde. Sie fand eine Mehrheit im Volk – und zwar nicht alleine wegen den Grossstädten, sondern, weil ihr urbane Kleinstädte wie Uster oder Pfäffikon genauso zustimmten wie kleinere Gemeinden wie Hausen am Albis, Seegräben oder Mönchaltorf. Selbst im ländlichen Knonauer Amt stimmten viele Gemeinden mit Ja. Die geringe Pendeldistanz zur Stadt Zürich hat zu einem starken Zuzug von dort geführt. Ähnliches zeigt sich in der Region Basel, wo Nachbargemeinden wie Münchenstein oder Allschwil mit der linken Seite abstimmten oder in Bern, wo sich eine Art «linker Gürtel» mit Gemeinden wie Köniz oder Wohlen um die Stadt gebildet hat.

Der Politgeograph Michael Hermann hat dafür eine Erklärung. «Das Städtische wächst über die Grenzen hinaus», sagt er. «Die innere Agglomeration wird linker.» Das sehe man auch in Bern, wo die «freisinnige Oberschichts-Gemeinde» Muri nach links gerutscht sei. Das habe verschiedene Gründe. Einerseits seien die Städte schon dicht bebaut. Das Wachstum finde deshalb ausserhalb der Stadtgrenzen statt. «Die grossen Städte in ihren engen politischen Grenzen verlieren an Bedeutung, weil grosse neue Wohnbauprojekte dort häufig keinen Platz finden. Sie werden stattdessen in der Agglomeration umgesetzt.» Doch welche Folgen hat das?

Es führe etwa dazu, dass Menschen aus der Stadt zögen, weil sie dort keine Wohnung fänden, sagt Hermann. Hinzu kommen jene, die ländlicher wohnen wollen. «Die Präsenz dieser Leute in den äusseren Gemeinden ändert auch den Charakter dieser Orte. So steigt etwa die Nachfrage nach Tagesstrukturen oder einem städtischen Angebot. Die urbane Mentalität wird exportiert.»

Michael Hermann. Bild: Sotomo

Rund um die Grossstädte wächst die Bevölkerung stark. Das beobachtet auch Martin Flügel, stellvertretender Direktor des Städteverbands, in dem viele Agglomerationsgemeinden vertreten sind. «Diese Städte wachsen stark und überdurchschnittlich und sind auch wirtschaftlich immer bedeutender», sagt er.

Der Einfluss dieser «Agglo-Städte» und der urbanen Mentalität dürfte sich eher noch verstärken. Eine neue Studie des Bundesamts für Statistik (BFS) kommt zum Schluss, dass sich die Bevölkerung der Schweiz zunehmend auf das Einzugsgebiet der grossen Agglomerationen Zürich und Genf konzentrieren wird. Das Wachstum werde zu einem grossen Teil in Zürich, Genf und den Nachbarkantonen Aargau, Zug, Schaffhausen, St. Gallen und Waadt stattfinden. Sie sind die einzigen Kantone, deren Bevölkerung bis 2050 um mehr als 25 Prozent zunehmen dürften. «Aargau, St. Gallen und Schaffhausen bleiben wegen ihrer Nähe zur Agglomeration Zürich attraktiv und verzeichnen ein deutliches Wachstum», heisst es im BFS-Bericht.

Doch ist das überhaupt wünschenswert – oder wäre es aus Sicht der Lebensqualität sinnvoller, das Wachstum würde sich auf die Grossstädte konzentrieren? «Diese sind bereit, noch grösser zu werden», sagt Michael Hermann. Das hätten zuletzt Abstimmungen über grössere Bauprojekte gezeigt, die eine innere Verdichtung ermöglichen – etwa über das Areal Thurgauerstrasse in der Stadt Zürich.

Das wäre möglicherweise für die Lebensqualität besser als die jetzige Entwicklung mit dem Wachstum in der Agglomeration. Denn eine Stadt wird noch nicht deswegen als lebenswerte Stadt wahrgenommen, weil sie wächst. «Es gibt eine Verstädterung in weiten Teilen der Agglomeration, aber das städtische Ambiente fehlt», sagt Hermann. Das habe auch eine Befragung des Städteverbands gezeigt. Damit eine Stadt als lebenswert angesehen wird, braucht es mehr als nur Einwohner und eine gute Erschliessung, sondern lebendige Quartiere oder ein vielfältiges Einkaufs- und Kulturangebot. Viele Agglomerationsgemeinden seien aber eher Aussenquartiere der grossen Städte, sagt Hermann.

Es gebe aber etwas, das den Agglomerationsgemeinden städtische Qualität verleihe: Das Tram. «Wenn es etwas gibt, das Stadtentwicklung vorantreibt, dann ist es das Tram», sagt Hermann. «Das ist etwas für grosse Städte, es gibt Strukturen. Die mentale Verbindung zur nächsten Grossstadt wird damit sofort enger.»

Die betroffenen Gemeinden sehen das ähnlich. Das sagt etwa Stefano Kunz, der Stadtrat in der Zürcher Nachbargemeinde Schlieren ist. Seit einem Jahr fährt dort das Tram 2 der Zürcher Verkehrsbetriebe. «Es bringt automatisch ein städtisches Gefühl», sagt er zu CH Media. «Man fühlt sich an eine grössere Stadt, wo die Trams ja normalerweise fahren, erinnert.» Hinzu komme die bessere Anbindung an die City. «Das Tram hat in Schlieren einen Prozess, der schon länger am Laufen ist, beschleunigt – nämlich jenen vom Dorf, das zur Stadt wird.»

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