Wie die Schweiz zum Volk der Mobilen und Autofahrer wurde – und wer dabei auf der Strecke bleibt (Abo)

Die Schweiz wurde in den letzten Jahrzehnten immer mobiler. Bild: Patrick Federi / Unsplash

Der Verkehr hat in der Schweiz massiv zugenommen. Der Siegeszug des Autos wird oft als gewonnene Freiheit verklärt, während Bedürfnisse anderer Verkehrsteilnehmer zu kurz kommen und sozial Schwächere nicht profitieren, wie ein Buch zeigt. Auch die Forschung muss sich teils neu orientieren.

von Markus Sieber
28. März 2022

Beim folgenden Text handelt es sich um einen Auszug des neu erschienenen Buchs «Schneller, weiter, billiger, mehr? Mobilität und Verkehr in der Schweiz seit 1918» von Markus Sieber. Es kann beim Chronos Verlag bestellt werden. Dieser Vorabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Mobilitätshandeln, Raum und Verkehrsinfrastruktur stehen seit je in einer engen Wechselwirkung. Bis ins 19. Jahrhundert war die Schweiz geprägt von einer kleinräumigen Besiedlungsstruktur. Mit Ausnahme von Städten wie Basel, Bern, Genf und Zürich, die bereits um 1800 mehr als 10’000 Einwohner hatten, lebte der Grossteil der Bevölkerung noch in Kleinstädten oder ländlichen Gemeinden. Die alltägliche Mobilität spielte sich für das Gros der Menschen zu Fuss und auf kleinem Raum ab; Arbeiten, Wohnen und das wenige an Freizeit waren örtlich kaum getrennt.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts begann sich die Raumordnung, angetrieben durch die Industrialisierung und den Bau der ersten Eisenbahnlinien, zu verändern. Die Bahn erhöhte die Erreichbarkeit der angeschlossenen Städte und Gemeinden und sorgte für ein starker zusammenhängendes und konzentriertes Städtesystem. Gleichzeitig erhöhte die Ansiedlung grosser Industriebetriebe die Attraktivität dieser Standorte, zumal die Landwirtschaft Ende des 19. Jahrhunderts infolge einer schweren strukturellen Krise immer weniger Menschen ein Auskommen bot, was zu einer Massenmigration in die urbanen Zentren führte.

Das dadurch verstärkte Wachstum der Städte und ihrer Vororte führte wiederum dazu, dass die im Alltag zurückgelegten Distanzen grösser wurden. Dazu trugen auch der Durchbruch des Fahrrads und der Bau von städtischen Nahverkehrssystemen bei, die sich bis in die 1930er-Jahre zu eigentlichen Massenverkehrsmitteln entwickelten. Fahrrad, Tram, Bus und Bahn waren nicht nur eine wichtige Voraussetzung für den rasch wachsenden Pendlerverkehr, sie erfreuten sich auch in der Freizeit oder für Besorgungen wachsender Beliebtheit – wobei die schienengebundenen Verkehrsmittel vor dem Zweiten Weltkrieg vom Grossteil der Bevölkerung ausserhalb des Berufsverkehrs meist nur bei besonderen Gelegenheiten genutzt wurden.

Mit der Massenmotorisierung erfuhr die Raumordnung ab den 1950er-Jahren erneut starke Veränderungen. Die räumliche Entwicklung verlief nun nicht mehr primär entlang der Achsen des ÖV; die Massenmotorisierung ermöglichte die Ausbreitung urbaner Gebiete und erhöhte die Erreichbarkeit auch in peripheren (nicht oder unzureichend an den ÖV angeschlossenen) Gebieten. Die damit verbundene Siedlungsentwicklung führte nach und nach zur Bildung von Agglomerationen, die sich zu immer weitläufigeren Einzugsgebieten entwickelten.

Parallel dazu begann sich die räumliche Anordnung der Arbeitsplätze zu verändern. Städtische Zentren verloren – abgesehen vom Dienstleistungssektor – an Bedeutung. Mehr und mehr Betriebe siedelten sich auf der grünen Wiese oder in den Agglomerationen an. Gekoppelt mit der bereits erwähnten Zersiedelung hatte dies zur Folge, dass die Distanzen im Berufsverkehr erheblich wuchsen und neue räumliche Pendlerbeziehungen entstanden (zum Beispiel Tangentialverkehr). Darüber hinaus revolutionierte die Massenmotorisierung auch den Einkaufs- und Freizeitverkehr. Die automobilgerechte Erschliessung von Freizeitanlagen und Tourismusregionen sowie der Bau grosser Einkaufszentren, die vor allem auf Automobilisten zugeschnitten waren, veränderten das Mobilitätsverhalten entscheidend und zogen eine stetig wachsende Zahl von Besuchern an.

In der Konsequenz stiegen die mit dem MIV zurückgelegten Personenkilometer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontinuierlich an. Gleichzeitig baute der MIV seinen Anteil am Gesamtverkehr bis in die 1970er-Jahre zuungunsten des ÖV und des Langsamverkehrs massiv aus. Dieser Trend konnte erst mit der Umweltwende und der teuren – aber verkehrspolitisch gewollten – Doppelförderung von MIV und ÖV gestoppt werden, wobei sich der Modalsplit in den letzten 20 Jahren stabilisiert hat und derzeit bei 65% MIV, 24% ÖV und 6% Langsamverkehr liegt. Die erwähnte Verkehrspolitik hat allerdings auch zur Folge, dass die Verkehrsleistung im MIV und ÖV weiter massiv gestiegen ist. Dieses Wachstum dürfte zumindest teilweise auf die verkehrsinduzierten Wirkungen zurückzuführen sein, die oft mit Angebotsverbesserungen einhergehen. Diese befriedigen häufig nicht nur die bestehende Nachfrage, sie können auch neue Bedürfnisse wecken und damit eine weitere Verkehrszunahme initiieren.

Über diesen sehr groben mobilitätshistorischen Abriss hinaus lassen sich aus der Auseinandersetzung mit den physischen Komponenten der Mobilität folgende Schlussfolgerungen ziehen:


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