
Thomas Küchler ist Vorsitzender der Geschäftsleitung der Südostbahn. Im Interview verrät er, warum er die Fokussierung des Bundes auf europäische Lösungen als kritisch erachtet und warum die Branche umdenken muss, um sich von der Coronakrise zu erholen.
von Stefan Ehrbar
7. Juli 2021
Herr Küchler, Seit ein paar Wochen fährt der Treno Gottardo der SOB von Zürich und Basel nach Locarno. Das Feedback in den Medien war vorwiegend positiv. Welche erste Zwischenbilanz ziehen sie?
Wir sind sehr zufrieden. Wir spüren ein grosses Interesse am Treno Gottardo und erhalten viele sehr positive Rückmeldungen unserer Kundinnen und Kunden. Unser Einführungsangebot war innert kürzester Zeit ausverkauft und die Frequenzen liegen über unseren Erwartungen.
Wo gibt es noch Verbesserungsbedarf?
Im Grundsatz stimmt unsere Leistung. Wir sind jedoch laufend daran, besser zu werden. Beim Kundenservice und auch bei der Technik unseres digitalen Marktplatzes müssen wir noch etwas mehr Kapazitäten bereitstellen, denn wir wurden bei unserem Einführungsangebot fast etwas überrannt.
Wie setzt sich die Kundschaft zusammen? Sind es vorwiegend Ausflügler oder Pendler?
Wir spüren ein grosses Interesse bei Freizeitreisenden, gerade für die Gotthard-Bergstrecke, Richtung Göschenen und Andermatt und in der Leventina. Weil der Treno Gottardo von Zürich nach Zug respektive von Basel über Olten nach Luzern Richtung Arth-Goldau-Göschenen und ins Tessin fährt, ist der Verkehr je nach Region eher durch Pendler oder Freizeitreisende geprägt.
Ende Jahr folgt der nächste Schritt der SOB im Fernverkehr mit dem IR Aare-Linth. Wie viele Mitarbeiter werden dafür eingestellt?
Bis Ende 2021 wird das Unternehmen um rund 200 Mitarbeitende auf über 800 wachsen. Ende 2019 beschäftigte die SOB 610 Mitarbeitende.
Aus Kapazitätsgründen muss die SOB auf doppelstöckiges Rollmaterial der SBB zurückgreifen. Ist die Beschaffung von eigenen Dostos für die SOB ein Thema?
Die Aufteilung, dass von Montag bis Freitag zwei von sieben Umläufen des IR35 «Aare Linth» durch die SBB mit Doppelstockzügen gefahren werden, ist durch Kapazitätseinschränkungen des Bahnhofs Bern während der mehrjährigen Umbauphase bedingt. Unser Fahrzeug- und Einsatzkonzept sieht nicht vor, dass wir selber doppelstöckiges Rollmaterial beschaffen. Unsere Stossrichtung geht dahin, dass wir im Fernverkehr nicht Hauptverkehrsstrecken, sondern Nebenlinien mit weniger Nachfrage und dafür besser geeignetem Rollmaterial bedienen und damit die Leistungen unserer Partnerin SBB ideal ergänzen können.
Die SOB fährt unter der Konzession der SBB. Stört Sie das?
Nein, der Kooperationsvertrag ist für beide Seiten attraktiv. Die SBB behält die Konzession aber auch das Einnahmerisiko, die SOB bekommt die Marktverantwortung und wird mit einer Kostenpauschale entschädigt.
Ist es das Ziel der SOB, künftig selber die Konzession für die FV-Strecken zu halten?
Der Bundesrat hat in seinem Bericht auf das Postulat Regazzi vom 21. März 2014 «Die zukünftige Marktordnung im regelmässigen und gewerbsmässigen Personenfernverkehr» festgelegt, dass es im Fernverkehr künftig nur eine Konzession, aber mit Kooperationen geben soll. Also soll das aktuelle Modell im Grundsatz weitergeführt, aber institutionell besser verankert werden.
Die SOB testet seit kurzem selbstfahrende Züge. Wie sind die Tests angelaufen?
Wichtig ist: Nicht wir, sondern die beteiligten Industrieunternehmen testen ihre entwickelten Produkte und wir unterstützen diese dabei. Die Züge können zwar selber fahren – aber immer unter der Aufsicht eines Lokführers. Es handelt sich also nicht, wie leider immer wieder geschrieben wird, um führerlose Züge. Die Tests haben sich coronabedingt etwas verzögert. Sobald die Bewilligung des BAV vorliegt, können wir die nächste Phase einläuten. Wir wollen dabei nicht mehr in der Nacht auf gesperrtem Gleis unterwegs sein, sondern im Regelbetrieb, jedoch noch ohne Fahrgäste.
In der Branche scheint es eher still geworden zu sein um Digitalisierungs- und Automatisierungsprojekte. Warum? Welche Haltung vertreten Sie?
Mit dem Stopp des Programms Smartrail 4.0 durch das BAV wurde zuerst eine Neuorientierung und Neupositionierung notwendig. Die daraufhin vom BAV festgelegte, für die Branche verbindliche ERTMS-Strategie, hat sicher Klarheit gebracht. Mit der Gründung des VöV-Forums «Umsetzung ERTMS-Strategie» unter dem Einbezug der Industrie ist nun der Weg frei, die Digitalisierung des Systems entlang der vom BAV festgelegten Strategie in der Branche in verdaubaren Schritten angehen zu können. Die in der BAV-Strategie festgelegte ausschliessliche Fokussierung auf europäische abgestützte Lösungen erachte ich, auch unter dem Lichte des gescheiterten Rahmenabkommens, aber als kritisch. Denn wie kann die Schweiz so ihre zum Teil weiter gehenden Anforderungen im europäischen Kontext einbringen?
Die Coronakrise hat den öffentlichen Verkehr stärker getroffen als den Autoverkehr. Wann rechnen Sie mit einer Rückkehr zum Normalzustand?
Den Zustand wie vor der Krise werden wir nicht mehr sehen. Ich gehe davon aus, dass im Bereich Pendler und Geschäftsreiseverkehr spürbare Veränderungen folgen werden. Homeoffice und der Einsatz von Videokonferenzsystemen sind nun geübt und werden, wenn auch nicht im vollen Ausmass wie während der Lockdownphasen, sicher bleiben. Dies wird zu Rückgängen und Verschiebungen bei den bisherigen Kundenströmen führen. Wir gross die allerdings sein werden, kann auch ich aktuell nicht einschätzen.
Nun rücken auch mit Bahn 2050 die Freizeitverbindungen mehr in den Fokus. Ist das richtig?
Wenn wir im öV wieder zu den alten Auslastungen zurückfinden beziehungsweise diese sogar erhöhen wollen, müssen wir umdenken und unseren Fokus nicht ausschliesslich auf den Berufs- und Pendelverkehr, sondern vielmehr auch auf den Freizeitverkehr richten. Denn schon heute sind Freizeitaktivitäten hierzulande Auslöser für täglich mehr als 50 Prozent der Reisen. Dass hier ein Potenzial besteht, haben wir bei der SOB mit Einführung des «Treno Gottardo» deutlich gesehen. Wir werden dieses Jahr auch für den Voralpen-Express und die neue Linie Aare-Linth diesen erfolgreichen Ansatz weiterführen und hoffen, damit auch ein entsprechendes Signal in Richtung Branche geben zu können.
Wenn Sie zurückblicken auf die letzten Monate: Welche Note geben Sie der Schweizer ÖV-Branche im Krisenmanagement?
Die Beurteilung der Branchenleistung überlasse ich gerne den Kundinnen und Kunden. Nur diese können uns sagen, wo wir gut gearbeitet haben und wo wir besser werden müssen.
Wo gibt es Verbesserungspotenzial?
Das gibt es immer. Bei der SOB müssen wir die an und für sich funktionierende Krisenorganisation noch besser auf sehr lang andauernde Krisen ausrichten. Hier treffen wir in allen Abteilungen die spezifischen Vorbereitungen, damit wir künftig flexibel und bedarfsbezogen verschiedene Krisen bewältigen können.
Welche Chancen sehen Sie für die SOB? Denken Sie über konkrete Partnerschaften oder neue Verbindungen nach?
Wir arbeiten bereits heute eng mit Kantonen und touristischen Partnern zusammen, um die Digitalisierung von Freizeitangeboten voranzutreiben. Darüber hinaus sind wir an mehreren konkreten Projekten zur Umsetzung von neuen vernetzten Mobilitätskonzepten beteiligt. Es geht dabei nicht darum, das eigene Aufgabenportfolio auszuweiten, sondern zusammen mit innovativen Partnern deren Konzepte und Ideen in Richtung vernetzte Mobilität zu unterstützen und dabei für das eigene Kerngeschäft frühzeitig erkennen zu können, wo Handlungs- und Anpassungsbedarf besteht.
Wie stehen Sie zum Bahnausbau: Braucht es einen grossflächigen Ausbau oder eine Konzentration auf dichtbesiedelte Gebiete?
Wir sollten die heutige Systematik des Angebotsausbaus im Sinne des Gesamt-öV optimieren. Darum suchen wir wie erwähnt, neue Wege und Möglichkeiten, um ein aus Sicht der Reisenden attraktives integrales Mobilitätsangebot zusammen mit unseren Partnern zu entwickeln.
Sie gelten als innovativer Kopf der Branche. Vermissen Sie die Bereitschaft, Neues auszuprobieren, in der Branche manchmal?
Die Innovationen bei der SOB entstehen nicht nur in meinem Kopf. Innovation ist in der SOB-DNA verankert und findet daher überall und nicht nur in speziell dafür zuständigen Bereichen statt. Die meisten Innovationen werden so von unseren Mitarbeitenden initiiert und bei Bedarf durch die Führung aktiv unterstützt.
Sind die Strukturen zu schwerfällig? Wie könnten sie reformiert werden?
Veränderungen sollten in der Branche und in der Politik primär als Chancen und nicht als Risiko angesehen werden. Mit Blick auf die sich abzeichnenden Veränderungen im Bereich Mobilität und Gesellschaft bin ich überzeugt, dass alle Beteiligten daran arbeiten müssen.
Wie bewegen Sie sich selbst fort?
Zu Fuss, mit den öV und mit dem Auto, bald auch elektrisch und solargetrieben.
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