Tourismus-Professor Christian Laesser: «Die Bahn funktioniert gut, wenn man nicht Umsteigen muss»

Christian Laesser. Bild: Universität St. Gallen

Christian Laesser forscht an der Universität St. Gallen zur Mobilität und zu Tourismus-Themen. Im Interview sagt er, wann sich das Reisen erholen wird. Ausserdem skizziert er eine Lösung, wie die Bahnen in Europa dem Flugzeug Passagiere abjagen könnten und sagt, warum jede Stadt, die über «Overtourism» klagt, selber schuld ist. 

von Stefan Ehrbar
18. August 2021

Herr Laesser, auch im Sommer 2021 sind Schweizer deutlich weniger ins Ausland geflogen als zuvor. Das zeigen die Zahlen der Passagiere an den Flughäfen. Sind Sie überrascht?
Nein, eigentlich nicht. Die Situation ist volatil. Je nachdem, wie sich die Parameter entwickeln – also Einreiseregeln, Quarantäne und so weiter – kann sich die Situation schnell ändern, zum Positiven wie Negativen. Ich ging davon aus, dass gelockert wird und hatte sogar den Mut zu sagen, dass der Sommer für die Schweizer Hotellerie schlechter wird als letztes Jahr, weil viele Schweizer wieder ins Ausland gereist sind. Es könnte aber auch sein, dass viele Schweizer wegen Unbehagens gegenüber Auslandsreisen in der Schweiz geblieben sind. Jede Prognose ist schlussendlich eine «mission impossible».

Viel war die Rede von einer Rückbesinnung aufs eigene Land und Nachhaltigkeit. Führt die Coronakrise zu mittel- oder langfristigen Verhaltensänderungen?
Nein, das bezweifle ich ernsthaft. Verhalten ist relativ «sticky» und wird nicht schnell geändert. Als im November bspw. die Vereinigten Arabischen Emirate aufgingen für Grossbritannien, explodierte der Flugverkehr zwischen den Ländern, und zwar weit über das Niveau des Vorjahres hinaus. Wenn man wieder mühelos reisen kann – also ohne Tests und so weiter – dann glaube ich, dass es wieder schnell aufwärts gehen wird.

Gibt es einen Nachholbedarf?
Nachfrage hat sich teilweise aufgestaut, da die Leute aufgrund der beschränkten Möglichkeiten in den vergangenen Monaten weniger ausgeben konnten. Dies könnte nun zu einem Nachfrageüberhang und vielleicht teilweise auch zu Kapazitätsengpässen führen. Das sehen wir bspw. in der Gastronomie, die Mühe hat, ihr Personal wieder aufzustocken. Viele Mitarbeiter im Tourismus haben sich mittlerweile andere Tätigkeitsfelder gesucht. Ich bin gespannt, was das für die Löhne bedeuten wird.

Wann sind wir beim Reisen wieder auf Vorkrisenniveau?
Es wird ein paar Jahre gehen, bis man wieder ein längeres stabiles Gleichgewicht hat. Das zeigt das Beispiel der Airlines: Die Low-Cost-Airlines mit ihren Point-To-Point-Verbindungen innerhalb Europas kommen sehr schnell wieder. Die Flag-Carrier wie die Lufthansa oder die Swiss mit komplexen Flugplänen, in denen die Flüge, insbesondere die Zubringer auf die Interkontinentalflüge, aufeinander abgestimmt sind, werden mehr Zeit brauchen. Diese Netze heraufzufahren, ist sehr komplex. Sie werden sich von Gleichgewicht zu Gleichgewicht hangeln. Möglicherweise werden auch die Preise etwas steigen.

Sie glauben, dass die Freizeitreisen wieder zurückkommen. Und die Geschäftsreisen?
Das ist eine ganz andere Geschichte. Über einen Businesstrip wird auch mit einer Kostenlogik entschieden. Zunehmend kommen vielleicht auch noch Überlegungen betreffend politischer Korrektheit hinzu: Beispielsweise lässt man Mitarbeiter vor dem Hintergrund der Massnahmen gegen den Klimawandel weniger fliegen und kommuniziert dies dann auch umfangreich. Wer die Geschäftsreise ausführt, hat in der Regel nicht die volle Autonomie, zu entscheiden, ob sie oder er die Reise macht oder nicht. Ob Geschäftsreisen künftig noch gemacht werden, hängt von verschiedenen Parametern ab: Sind zufällige Begegnungen gewünscht? Wie lange dauern die Reisen, wie hoch ist der Grad der Vertrautheit, um was geht es? Wenn der Inhalt eines Treffens strukturierbar ist und in relativ kurzer Zeit abgehandelt werden kann, wird dieses eher online stattfinden. Eine Verhandlung hingegen wird auch künftig wohl physisch stattfinden. Je nach Prognose und abhängig von der betrachteten Grundgesamtheit werden bei den Geschäftsreisen dauerhafte Einbussen von bis zu 50 Prozent vermutet, der Konsens ist etwa bei Minus 20 Prozent.

Welche geschäftlichen Treffen werden künftig online stattfinden?
All jene, bei denen man eine Traktandenliste abhandelt und nach zwei bis drei Stunden fertig ist. Wo man sensitive Sachen behandelt oder zufällige Begegnungen will – etwa an Messen oder Konferenzen – werden Reisen weiterhin ihre Berechtigung haben. Dort kann man während zwei bis drei Tagen sehr effizient gewisse Dinge abhaken, für die man sonst Tage bräuchte. Dass Geschäftsleute jeden Tag der Woche einen anderen Städtetrip in Europa machen, wird es wohl kaum mehr geben. Die Frage ist auch, bis zu welchem Ausmass die Konvergenz zwischen Business und Freizeit zunimmt.

Wie meinen Sie das?
Es kommt schon heute vor, dass Menschen geschäftliche Gründe bei Reisen mit privaten kombinieren und dann vielleicht sogar einen Teil der Kosten übernehmen, besonders auf Interkontinentalreisen. Das ist eigentlich eine win-win-Situation für den Arbeitgeber und -nehmer. Diese Konvergenz könnte künftig ausgeprägter und auch systematischer stattfinden. Als Grundsatz gilt: Je mehr unterschiedliche Gründe ich habe, zu reisen, umso eher werde ich das physisch tun. Online-Meetings sind präzis: Man weiss genau, was man besprechen will. Es ist ein bisschen wie beim Einkaufen. Online macht man das viel gezielter – ausser man will stundenlang vor dem Bildschirm sitzen. In den Laden geht man, wenn es zufälliger sein soll. Stationäres Browsing ist immer noch eine andere Sinneserfahrung als Online-Browsing. Bei Jüngeren kommt noch etwas anderes dazu. Bei ihnen gehört das Reisen häufig zum Selbstbild. Wenn man weiterhin Fachkräftemangel hat und jüngere Mitarbeiter der Meinung sind, dass Reisen zu ihrem sozialen Selbst gehört, dann muss man sich als Arbeitgeber gut überlegen, ob man ihnen das wegnehmen will. Jüngere wollen unterwegs sein. Geschäftsreisen können für sie durchaus attraktiv sein.

Viele erwarten für das «ramp up» nach der Krise einen Preiskampf in der Aviatik. Sie auch?
Bei den Low-Cost-Carriern wird es einen Preiskampf geben. Solche Flüge können relativ schnell heraufgefahren werden. Das ist nicht komplex. In Asien kann man Flüge für Air Asia mehr als zwei bis drei Monate voraus nicht einmal buchen. Bei einem Interkontinental-Flug hingegen hängen weit über 100 Stellen an einem Flugzeug. Das ist wie ein KMU. Diese komplexe Struktur hat ein Lowcost-Anbieter nicht.

Aber mit Preisen von weniger als 50 Franken pro Ticket, wie sie beispielsweise Ryanair verkauft, scheint es kaum möglich, profitabel zu arbeiten.
Nur der kleinste Teil der Passagiere sitzt zu Tiefstpreisen in den Billigfliegern. Diese decken dann meist auch nur die marginalen Kosten. Die sind relativ klein – im Wesentlichen ein paar Franken für Kerosin und das Mehrgewicht der Leute, die mitfliegen. Alle anderen Kosten sind mehr oder weniger fix. Da verkauft man lieber ein Ticket nahe an den marginalen Kosten, als leer herumzufliegen.

Die Bahn hat innerhalb Europas einen deutlich kleineren Anteil an grenzüberschreitenden Geschäftsreisen als das Flugzeug. Warum?
Für viele Destinationen lässt die Bahn keinen Tagestrip zu. Bei allem, was mit der Bahn als Tagestrip machbar ist hat die Bahn solide Marktanteile. Viele Ziele sind hingegen mit der Bahn so nicht erreichbar. Der Nachtzug wiederum ist nicht sehr effizient: Wer schläft, braucht mehr Platz. Ein Flugzeug müsste man eins zu eins mit einen Nachtzug ersetzen. Zur Illustration: Zwischen Zürich und London gab es vor der Krise pro Tag wahrscheinlich alleine von Swiss und British Airways mehr als 30 Flüge. Dieses Volumen ist mit Nachtzügen kaum substituierbar.

Auf welchen Strecken hat die Bahn aus der Schweiz heraus eine Chance?
Das sind sehr wenige Relationen, so etwa Paris, Milano, Frankfurt oder München.

Was ist neben der Geschwindigkeit besonders wichtig: Sind es Direktverbindungen, der Komfort oder der Preis?
Es ist generell die Convenience. Die ist bei Bahnreisen innerhalb der Schweiz gegeben. Darüber hinaus nur beschränkt. Eine Stadt in Europa zu bereisen, ist per Flugzeug einfach. Sie gehen auf die Seite der Airline, buchen, und fertig. Das ist unkompliziert. Wenn man mit der Bahn nur schon nach Deutschland will, kann das zu einem Abenteuer werden. Sobald die Strecke etwas komplizierter wird, ist das Buchen auch kompliziert. Hinzu kommt: Die Bahn funktioniert gut, wenn man nicht Umsteigen muss. Jedes Umsteigen kann zu einem unkalkulierbaren Risiko werden. Beim Fliegen hat man diesen Nachteil weniger, denn häufig bleibt auch nach Umsteigevorgängen dieselbe Airline für einen zuständig. Das gibt Reisenden Sicherheit, dass sich um sie gekümmert wird, wenn etwas passiert und dass man in guten Händen ist.

Wie könnten die Bahnen damit konkurrenzieren?
Bahnen sind im internationalen Verkehr alles andere als «straight forward». Wenn ich jetzt ein Billett kaufen wollte nach London, wie würde das machen? Wahrscheinlich über die Seite der SNCF. Oder Eurostars? Man müsste einen Weg finden, diesen Vorgang unabhängig vom Bahnbetreiber zu machen. Es bräuchte so etwas wie einen ZVV im Grossen. Wenn die Bahnen international wirklich den Flugverkehr konkurrieren wollten, müsste vielleicht eine virtuelle und kundenorientierte Integrationsebene geschaffen werden – also eine Plattform, auf der alle internationalen Tickets in Europa gebucht werden können und hinter der eine Organisation steht, die für die Kunden verantwortlich ist. Die Kundenbindung müsste dann gemeinsam auf eben dieser Plattform stattfinden. Als ich vor drei Jahren mit Kollegen im Zug durch Europa gefahren bin, durch Deutschland, Österreich, Tschechien, Slowakei und Italien, habe ich fast alle Tickets bei der Tschechischen Staatsbahn gebucht…

Müsste denn der Vertrieb europaweit geöffnet werden?
Nein, denn es geht ja nicht primär darum, nur das Billett zu verkaufen, sondern darum, dass jemand – idealerweise nicht der Kunde – die Verantwortung übernimmt, wenn etwas nicht läuft. Es ist wie mit Hotelbuchungsplattformen und den Hotels. Wenn Sie etwas in der Hand haben wollen gegenüber dem Hotel, buchen Sie beim Hotel direkt und nicht bei Hotelbuchungsplattformen. Die Bahnbetreiber müssten sich deshalb überlegen, das Heft in die Hand zu nehmen und sich mit anderen hierzu zu zusammenzutun. Nicht durch Fusionen, aber durch eine gemeinsame Plattform. Alles, was grenzüberschreitend ist, könnte dort gebucht werden. Und die Bahnen stehen dann auch gemeinsam dahinter. Das Risiko, dass den Bahnen eine Kartellierung vorgeworfen wird, würde ich mal eingehen… der Zweck ist ja ein guter und die Beisshemmung der Behörden deshalb entsprechend grösser!

Wie treffen die Entwicklungen bei den Geschäftsreisen den ÖV im Inland?
Wie gewisse europäischen Flugverbindungen, bspw. Zürich – Brüssel, sind gewisse Strecken stark von den Meetings getrieben. Die SBB-Verbindung Zürich-Bern lebt neben den Pendlern massgeblich von Personen auf dem Weg zu oder von Meetings. Das wird sich ändern. Diese Kundengruppe wird kleiner. Ich beispielsweise habe häufig mit dem Seco zu tun. Dieses habe ich schon länger nicht mehr von innen gesehen.

Sie sind Experte für Tourismus. Grosse Hotelketten wie Accor investieren weiterhin in den Schweizer Städten. Macht das Sinn, obwohl der Tourismus in den Städten in den letzten Monaten am stärksten litt?
Ja. Der urbane Tourismus wird zurückkommen. Da mache ich mir keine Sorgen. Accor sucht Objekte, an denen sie mit Management-Verträgen und Franchise-Modellen verdienen können. Das grösste Risiko haben nicht sie, sondern die Besitzer der Immobilien. Ich denke auch, viele Objekte werden noch auf den Markt kommen. Darum bin ich nicht überrascht.

Kommt der Städtetourismus in der Schweiz wirklich zurück? Zürich beispielsweise ist ja keine Stadt, die primär für Ferien besucht wird, sondern aus geschäftlichen Gründen.
Ferienreisende gibt es in Zürich schon auch. Aber Städte wie Zürich und Bern sind auch ideale Hubs und haben unterschiedliche Funktionalitäten, insbesondere für Gäste aus dem Ausland. Städtetourismus ist darum ein unglücklicher Name. Eine Stadt wird nicht exklusiv bereist, sondern etwa auch als Ausgangspunkt für Tagesausflüge genutzt, als Etappenort bei spontanem Umherreisen oder als Tor in ein Land, wie etwa New York für viele USA-Reisende ein Gateway ist. Gerade, wenn Städte verkehrstechnisch so gut erschlossen sind wie Schweizer Städte, ist das ein Vorteil. Von Zürich aus kann man Tagesausflüge bis hin nach Zermatt unternehmen. Hinzu kommt: Urbane Gebiete sind immer anziehend, weil man mehr Optionen hat, was man machen kann. Und viele Touristen kommen aus einem urbanen Umfeld, die fühlen sich in totaler Natur gar nicht wohl. Es gibt Menschen, die brauchen am Morgen einen Starbucks-Kaffee.

Vor der Krise wurde auch in der Schweiz über Overtourism geredet, etwa in Luzern. Werden wir in drei Jahren wieder dieselben Diskussionen führen?
Jeder, der Overtourism beklagt, der schafft es als Stadt nicht, die Besuchermassen in die richtigen Bahnen zu lenken. Da müssen sich alle an der eigenen Nase nehmen. Häufig sind halt jene, welche den Nutzen aus den vielen Touristen ziehen, politisch auch die stärkere Gruppe. Da geht es um Machtverhältnisse. In Dubrovnik beispielsweise ist der Hafen ein wichtiger Arbeitgeber. Wer als Politiker Einschränkungen für diesen machen will, der legt sich mit einer mächtigen Gruppe an.

Was könnte man gegen Overtourism machen?
Die Rezepte sind bekannt. Man kann etwa weniger Busse in eine Stadt reinlassen, beispielsweise durch die Beschränkung von Haltepunkten und Parkplätzen, kombiniert mit einer Reservationsmöglichkeit oder sogar -pflicht, oder sogar Eintritt verlangen. Diese Eintritte könnte man bei Einkäufen in der Stadt erstatten. Die Gruppen werden aber nicht verschwinden. Denn jeder, der es kann, fängt einmal an zu reisen. Häufig fangen Anfänger aus Risikoüberlegungen an, in Gruppen zu reisen, weil dann für alles gesorgt ist. Jedes Land hat genügend Nachwuchs damit das so weitergeht, denken Sie an China oder Indien. Diese Nachfrage treibt auch das Angebot – Gruppenreisen werden also weiterhin bestehen. Und nur so nebenbei: Auch Schweizer reisen in Gruppen… Wir fallen vielleicht aufgrund der geringen Zahl weniger auf, doch auch Schweizer Gruppen finden sich im Gedränge mit anderen Gruppen an internationalen touristischen Hotspots. Nun heisst es manchmal auch, die Jungen würden weniger in Gruppen reisen. Diese Wahrnehmung teile ich nicht. Nur ein Beispiel: Nach Australien reisen 80 bis 85 Prozent der Menschen unabhängig und individuell ins Land. Mehr als die Hälfte davon ist aber weniger als eine Woche nach der Ankunft in einem Gateway wie Sydney oder Brisbane schon in Gruppen organisiert. Die Tour Operators gehen einfach in die Hostels und machen dort das grosse Geschäft.

Müssten das Schweizer Anbieter jetzt auch machen?
Ich versuche, meine Kollegen schon lange davon zu überzeugen, dieses Geschäft nicht ausländischen Anbietern zu überlassen, sondern selbst mit zu machen. Das hat auch ökonomische Gründe. Gegenüber den grossen Operators sind etwa kleinere Schweizer Hotels sonst machtlos. Es gibt erste Versuche damit, beispielsweise in Luzern. Man müsste aber auch über die Landesgrenzen heraus denken und mit Städten wie Paris und Mailand zusammenarbeiten. Jetzt ist die ideale Zeit dafür. Jetzt liegt alles in Scherben. Jetzt ist Zeit sich zu überlegen, wie man in Zukunft einen Teil der bislang verlorenen Marge wieder zurückholen kann.

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