Pro-Velo-Geschäftsleiter Jürg Buri: «Das ist kreuzfalsch. Es gibt keinen Grund, nicht Velo zu fahren»

Pro-Velo-Geschäftsleiter Jürg Buri. Bild: zvg

Jürg Buri ist Geschäftsleiter der Lobby-Organisation Pro Velo Schweiz. Im Interview sagt er, warum die Schweiz ein Velo-Entwicklungsland ist, warum er mit dem Veloverlad in SBB-Zügen unzufrieden ist und wieso das Velo nicht nur ein Verkehrsmittel für gesunde und junge Menschen ist – und sich wirtschaftlich rechnet.

von Stefan Ehrbar
20. Dezember 2021

Herr Buri, Welchen Einfluss wird die Coronakrise langfristig auf die Nutzung des Velos haben?
Die Corona-Lockdowns waren ein Fenster in die Velozukunft. Viele Popup-Veloinfrastrukturen, die während der Krise gebaut wurden, gibt es heute noch. Die Coronakrise hat uns gezeigt, wie gross das künftige Velopotential in unsern Städten ist. Wenn wir die Klimakrise irgendwie meistern wollen, dann müssen wir die Ansätze aus der Coronakrise verstärken und dem Velo den roten Teppich ausrollen.


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Zuletzt sind die Anteile des Velos nicht mehr so stark gestiegen, in Städten wie Zürich und Basel gingen sie im Vergleich zu 2020 gar wieder etwas zurück. Worauf führen sie dies zurück?
Das ist schwer zu sagen. Ich weiss nicht, was da genau gemessen wurde. Die Virenkrise hat das Velofahren geboostert wie noch nie. Nun kehren wir langsam zu den alten Gewohnheiten zurück. Aber der Veloboom wird bleiben – wenn er auch nicht so rasant zulegen wird wie während der Krise.

Es gibt die Theorie, dass mittlerweile jeder, der fürs Velo empfänglich ist, sich mittlerweile eines gekauft hat. Wie sehen Sie das?
Das sehe ich anders. Das Velo wird weiter an Boden gut machen. Die Schweiz ist noch ein Velo-Entwicklungsland. In den besten Schweizer Städten wird viermal weniger Velo gefahren als in Kopenhagen! In den klimaneutralen Städten von Morgen wird das Velo das Fahrzeug Nummer Eins sein. Weil schnell, gesund, platzsparend und umweltfreundlich

Wie stehen Sie zur Velohelmpflicht für Jugendliche, wie sie der Bundesrat verordnen können will?
Wir empfehlen Helme für Kinder, aber wir sind gegen ein Obligatorium. Die Forderung des Bundesrates ist kontraproduktiv, unnötig und nicht umsetzbar. Wir haben in den letzten 20 Jahren viele Kinder und Jugendliche als Velofahrer verloren. Diese müssen wir aus verkehrs- und umweltpolitischen Gründen wieder zurück in den Sattel holen. Die Helmpflicht hilft uns dabei nicht. Im Gegenteil. Kinder und Jugendliche fahren noch weniger Velo und Eltern werden ihren Kindern das Velofahren verbieten. Was wir brauchen, sind gute und sichere Veloinfrastrukturen. Kommt dazu, dass die Helmtragquote bei Kindern heute schon bei über 70% liegt! Zudem ist ein Helmobligatorium für Kinder und Jugendliche von der Polizei kaum umsetzbar.


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Wie stehen sie zu einer allgemeinen Velohelmpflicht?
Wir lehnen eine Velohelmpflicht ab und befürworten das freiwillige Tragen. In guten Veloländern mit guter Infrastruktur gibt es keine Helmpflichten und auch viel weniger Unfälle, geschweige denn Diskussionen über Velohelmpflichten. Da wird das Velo gefeiert und gefördert, weil es das effizienteste Fahrzeug überhaupt ist. Das ist der Weg, den wir auch gehen müssen.

Die Zahl der Unfälle und der Verletzten im Zusammenhang mit E-Bikes steigt stark. Worauf führen sie das zurück? Was bräuchte es jetzt?
Je mehr Skifahrer auf der Piste, desto mehr Unfälle. So ist es auch bei den E-Velos. Was es braucht, ist generell mehr Platz für die verschiedenen Spielformen von Velos. Und es braucht auch Fahrkurse für E-Bikers, insbesondere Senior:innen, wie sie auch Pro Velo anbietet.

Der Bund rechnet gemäss den «Verkehrsperspektiven 2050» des Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) im Basis-Szenario damit, dass die Zahl der mit dem Velo zurückgelegten Personenkilometer zwischen 2017 und 2050 um 97,2% steigt. Der Anteil des Velos an den Wegen steigt in diesem Szenario aber nur um 1,7 Prozentpunkte von 2,1 auf 3,8%. Der Anteil an den Personenkilometern soll von 2,7 auf 5,3% steigen. Halten Sie diese Prognose für realistisch?
Nein ich glaube, das Velopotential wird hier massiv unterschätzt. Die Elektrifizierung des Velos hat erst gerade ein ich glaube, das Velopotential wird hier massiv unterschätzt. Die Elektrifizierung des Velos hat erst gerade begonnen. Und schon heute kommen erste Schreiner und Maler mit dem Cargovelo auf die Baustelle. Es gibt schon heute Schweizer Städte, in denen die Hälfte der Haushalte kein Auto besitzt. Dieser Trend hin zu weniger Autos und mehr Velos und ÖV wird sich fortsetzen. Zwangsläufig, denn die individuelle Auto-Mobilität, unser heutiges Verkehrssystem, funktioniert in den Städten nicht mehr. Die Autos stehen im Stau! Staukosten und Zeitverschwendung sind enorm. Wenn wir mobil bleiben wollen, müssen wir auf raumeffizientere Mobilität umsteigen. Und hier gibt es auf den ersten 10 Kilometern nichts besseres als das Velo!


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Welche quantitativen Ziele müsste sich der Bund ihrer Meinung nach setzen?
Das Velo muss auf den Strecken unter 10 Kilometern zum Fahrzeug Nummer Eins werden. Sprich: Mindestens 50 Prozent der kurzen Wege sollen mit dem Velo zurückgelegt werden. Das ist mehr als realistisch. Kopenhagen hat dieses Ziel schon fast erreicht. Mit E-Velos ist das auch in der Schweiz problemlos möglich.

Wie sind diese zu erreichen?
Bessere Infrastruktur, generell mehr Platz und Entflechtung von Autos und Velos! Wir brauchen neben Autostrassen und Fussgängerzonen endlich eine dritte Infrastruktur fürs Velo, auf welcher Kinder bis hin zu Senior:Innen sicher unterwegs sein können – und ihr Velo dann auch irgendwo abstellen können. Es ist allen gedient, wenn wir Velos und Autos möglichst entflechten. Wir sollten unsere Städte neu denken und das Primat des Autos verlassen. Für diesen Umbau braucht es visionäre Stadtplaner:innen und Verkehrsingenieur:innen, welche selber mit dem Velo unterwegs sind. Diesen Fortschritt müssen wir zusammen mit dem Wirtschaftsverkehr planen. Denn ganz ohne Autos und ohne Lastwagen wird’s auch in den Städten nicht gehen.

Welche Städte und Kantone müssen bei der Veloförderung noch zulegen?
Alle.


Welche machen es besonders gut?
Bern, Winterthur und Basel. Zürich erwacht gerade aus dem Tiefschlaf. Die Romandie ist noch zurück, holt aber auf! Bravo Genf und Lausanne! In Locarno gibt es bereits Critical Mass Events.

Der Velotransport in den Zügen der SBB ist immer wieder ein heiss diskutiertes Thema, auch wegen der ausgedehnten Reservationspflicht in IC-Zügen. Wie beurteilen sie die aktuelle Regelung?
Die Situation ist sehr unbefriedigend. Die Velomitnahme ist zu teuer und das Ticketing eine Zumutung. Die SBB hat es verpasst, den politischen Willen des Parlaments hin zu mehr kombinierter Mobilität auch wirklich umzusetzen. Wir wollen ein offenes System Bahn&Velo ohne Reservationspflicht. Das bedeutet vor allem mehr Platz in den neuen IC-Zügen für Velos, Skis und Kinderwagen.

Stehen sie diesbezüglich in Kontakt mit der SBB? Was sind die nächsten Schritte ihrerseits?
Ja. Wir haben der SBB vor zwei Monaten 55’000 Unterschriften von unzufriedenen Kundinnen überreicht. In den Verhandlungen mit den SBB konnten wir noch Schlimmeres abwenden. Als Nächstes geht es um die neue Leistungsvereinbarung zwischen Bund und SBB. Hier muss die Velomitnahme ein Thema sein.

Was halten sie von der Idee der finanziellen Förderung z.B. für den Kauf von Lastenvelos?
Diese Idee finde ich sehr gut. Am fairsten wäre das finanziert aus einer Klimaabgabe auf fossilen Treibstoffen. Das wird auch bereits von einigen europäischen Städten so gemacht. Volkswirtschaftlich betrachtet ist Velofahren eh ein Bombengeschäft. Jeder gefahrene Kilometer ist pures Geld wert. Die Stadt Helsinki hat berechnet, dass jeder ins Velo investierte Franken ganze 8 Franken zurückspielt! Und in Wien waren zuerst alle Geschäfte gegen den Umbau der Einkaufsstrassen in autolose Boulevards. Heute will jedes Wiener Quartier solche Veloeinkaufsmeilen, weil die Umsätze in den Läden steigen und die Strassen wieder zu leben beginnen.

In vielen Städten nehmen Velofahrerinnen und Velofahrer die Infrastruktur noch immer als gefährlich war. Welche Massnahmen sind besonders geeignet, das zu ändern?
Wichtig sind eigene Velofahrbahnen ohne gefährliche Autos und Lastwagen. Wo das nicht möglich ist, soll es abgetrennte Velofahrbahnen oder Velostreifen geben – die immer genug breit, so dass Velos überholen können. Essenziell sind auch durchgehende und direkte Velobahnen mit Velovortritt. Und was immer wieder zu schlimmsten Unfällen führt sind rechts am Rand parkierte Autos und aufspringende Autotüren.  Was auch hilft, ist farbig markierte Veloinfrastruktur.

Wie stehen Sie zur Frage nach Tempo 30 in den Städten? Bräuchte es dieses flächendeckend, auch zur Erhöhung der Verkehrssicherheit?
Ja, wir befürworten jede Tempo 30-Zone, in der Velos und Autos gemischt verkehren. Das geringere Tempo mindert die Unfallfolgen. Aber die gefühlte Sicherheit ist für den Velofahrer kaum besser. Das Veloparadies beginnt erst nach der Tempo-30-Zone. Bei Tempo 30 dürfen wir also nicht stehen bleiben, wenn wir dem Velo den roten Teppich ausrollen wollen.


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Was entgegnen sie der Kritik, dass das Velo vor allem ein Verkehrsmittel für Junge und Sportliche ist?
Das ist kreuzfalsch. Das Velo ist für junge wie für alte das ideale Fahrzeug in der Stadt – mit Ebikes gilt das für Senior:innen und für hügelige Schweizer Städte erst recht. Es gibt keinen Grund, nicht Velo zu fahren. Velo fahren macht glücklich und schön – innerlich wie äusserlich. Egal ob jung oder alt.

Wie bewegen Sie sich selbst fort?
Ich fahre 365 Tage im Jahr Velo. Auch wenn es regnet. Und mit Zug und Postauto komme ich überall hin. Manchmal leihe ich mir ein Cargovelo für ins Gartencenter oder für in den Baumarkt. Wenn dies nicht ausreicht, leiste ich mir ein Taxi.


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