Aufstand gegen die Politik des Bundes: Zürich will mehr Geld für grosse Agglos und spricht von «Missverhältnis»

Erhielt bisher wenig Geld pro Kopf: Die Agglo Limmattal. Bild: Badener / Wikimedia (CC BY 3.0)

Der Kanton Zürich kritisiert die Agglomerationsprogramme des Bundes: Kleine Agglomerationen erhielten gemessen an ihrer Bevölkerungszahl höhere Beiträge als die grossen. Das müsse sich ändern, fordert er. Mit der Kritik ist er zwar alleine, hat aber die Zahlen auf seiner Seite. Der Bund verteidigt sich.


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von Stefan Ehrbar
21. November 2022

Dass das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) im Rahmen der Agglomerationsprogramme der vierten Generation die Verlängerung der Glattalbahn vom Flughafen Zürich nach Kloten zurückgestellt hat, sorgt beim Kanton Zürich für nachhaltigen Ärger (Mobimag berichtete). Nun stellt er sogar die grundlegende Methodik hinter den Programmen in Frage.

Der Vorwurf lautet verkürzt: Ausgerechnet bei den Agglomerationsprogrammen erhalten kleine Regionen überdurchschnittlich viel Geld vom Bund, wohingegen die grossen Agglos rund um Zürich, Bern, Basel und Genf benachteiligt werden. 

Diese Kritik geht aus der Antwort des Zürcher Regierungsrates an das Bundesamt hervor, die Mobimag vorliegt. Konkret schreibt die Kantonsregierung dort:

«Wir anerkennen, dass etwas mehr als die Hälfte der eingereichten Investitionskosten für Massnahmen auf die vier grossen Agglomerationen Basel, Bern, Genf und Zürich entfallen. Wie der Bund in seinem erläuternden Bericht selbst festhält, widerspiegelt dies die Probleme der Verkehrssysteme in diesen Regionen wie auch die Komplexität der zur Behebung nötigen Massnahmen. Wird jedoch das Verhältnis der Investitionskosten zur Bevölkerungs- und Beschäftigtenzahl berücksichtigt, zeigt sich, dass die kleineren Agglomerationen zum Teil signifikant höhere Bundesbeiträge erhalten. Wir erwarten deshalb, dass sich bei zukünftigen Generationen die Verteilung der Bundesbeiträge noch verstärkter an den Problemstellungen und der Anzahl der aus der Massnahme nutzenziehenden Personen orientiert.»

Der grösste Handlungsbedarf bestehe in den grossen Agglomerationen. Als solche seien laut Bund die Agglomerationen Zürich-Glattal, Basel, Bern, Grand Genève und Lausanne-Morges klassifiziert. Zwar sei etwas mehr als die Hälfte der eingereichten Investitionskosten für Massnahmen in diesen Agglomerationen vorgesehen. Werde aber das Verhältnis der Kosten zur Bevölkerungs- und Beschäftigungsdichte berücksichtigt, zeige sich, dass die kleineren Agglomerationen zum Teil signifikant höhere Bundesbeiträge erhielten. «In den grossen Agglomerationen mit ihren hohen Einwohner- und Arbeitsplatzdichten sind die zu lösenden Verkehrsprobleme am stärksten ausgeprägt. Trotzdem werden gerade dort pro Kopf signifikant weniger Bundesbeiträge als bei mittleren und kleineren Agglomerationen eingesetzt», schreibt der Zürcher Regierungsrat. Und weiter:

«Berücksichtigt man neben der Wohnbevölkerung auch die in der Regel hohen Anteile an Zupendelnden sowie die vielfach wegen der hohen Siedlungsdichten und der Vielzahl an bestehenden Infrastrukturen aufwendigeren Bautechnik, akzentuiert sich das Missverhältnis weiter. Die Effizienz der eingesetzten Bundesmittel ist damit aus unserer Sicht mangelhaft und muss verbessert werden.»

Die anderen laut dem Kanton Zürich ebenfalls benachteiligten Kantone teilen die Kritik nicht. Der Kanton Bern kritisiert in seiner Stellungnahme zwar, dass «die schweizweite Beurteilung der Programmwirkung grundsätzlich zu streng» sei und «nachvollziehbare Beurteilungen zur Erreichung der Wirkungskriterien in den Prüfberichten fehlen». Von einer grundsätzlich falschen Allokation der Gelder ist dort aber nichts zu lesen. In der Stellungnahme der trinationalen Trägerschaft des Agglomerationsprogramms Basel wird zwar die Priorisierung einzelner Projekte wie Bachgraben-Allschwil-Hégenheim kritisiert, grundsätzlich wird aber die vorgesehene Finanzierung begrüsst und verdankt und nicht etwa kritisiert. Der Kanton Genf wiederum hält sich sehr kurz: Grundsätzlich sei er «sehr zufrieden», heisst es in der vierseitigen Antwort. Auch der Kanton Waadt schreibt in seiner Vernehmlassungsantwort nichts von einer Benachteiligung grosser Agglomerationen.

Dass der Kanton Zürich alleine auf weiter Flur gegen das System kämpft, muss allerdings noch nicht heissen, dass er falsch liegt. 

Tatsächlich bestätigt der Bund in seinem erläuternden Bericht den Befund des Kanton Zürich. Für grosse Agglomerationen stellt er demnach in der 4. Generation mit 140 Franken am wenigsten Geld pro Einwohner der Präsenzbevölkerung zur Verfügung. Mittelgrosse Agglomerationen erhalten 145 Franken pro Kopf, mittelkleine 191 und kleine Agglomerationen gar 201 Franken pro Kopf – 44 Prozent mehr als die grossen Agglomerationen. «Es zeigt sich, dass in den kleineren beitragsberechtigten Städten und Agglomerationen höhere Investitionskosten anfallen», schreibt das ARE in seinem Bericht. 

Werden die Ausgaben über alle bisherigen vier Agglomerationsprogramme zusammengerechnet, so zeigt sich ein zum Teil noch deutlicheres Missverhältnis. Pro Kopf erhielt etwa die kleine Agglomeration Burgdorf 2800 Franken, in Langenthal waren es 1300 Franken, in Brig-Visp-Naters 1000 Franken.

Fairerweise sei angemerkt, dass auch zwei grosse Agglomerationen mehr Geld erhalten haben als der Durchschnitt der Schweiz mit gut 1000 Franken. So konnte Bern bisher Investitionen des Bundes von 1300 Franken pro Kopf verbuchen (gleich viel wie etwa Brig-Visp-Naters) und Lausanne-Morges gut 1100 Franken. Dass der Kanton Bern für seine Agglomerationsprogramme bisher mit wenigen Ausnahmen überdurchschnittlich gut finanziert wurde, könnte auch erklären, warum er in der Verteilung der Gelder kein Problem sieht.

Für die wohl grösste Agglomeration des Landes, die Region Zürich-Glattal-Limattal, investierte der Bund bisher hingegen nur 800 Franken pro Kopf. Unterdurchschnittlich wenig Geld erhielten auch die Region Grand Genève mit 900 Franken pro Kopf und die Region Basel mit gut 700 Franken pro Kopf. Dürftig war bisher auch die Mitfinanzierung von Projekten in den mittelgrossen Agglomerationen Kreuzlingen-Konstanz und Luganese mit etwa 400 Franken pro Kopf. Auch das Zürcher Oberland erhielt bisher erst Investitionen von etwa 400 Franken pro Kopf vom Bund zugesprochen.

So wurden die Gelder bisher verteilt. Grafik: ARE

Ob diese Verteilung – kleine Städte und Regionen erhalten verhältnismässig viel Geld, grosse wenig – im Sinn eines Programms ist, das explizit die Situation in Agglomerationen verbessern soll, kann tatsächlich hinterfragt werden. Vor allem, weil sich in grossen Agglomerationen ein weiteres Problem stellt: Sie bräuchten eigentlich wegen der hohen Komplexität noch mehr Geld. Wegen der Bewertungsmethodik des Bundes können selbst Massnahmen, denen der Bund einen sehr hohen Nutzen attestiert (die Verlängerung der Glattalbahn erhielt etwa vom ARE 11 von 12 Punkten und einen «sehr hohen Nutzen» attestiert), kein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis erzielen, wenn sie etwa wegen der städtebaulichen oder topografischen Situation teuer sind. Insbesondere in dicht besiedelten Gebieten, die schon stark bebaut sind, ist das Bauen von neuer Infrastruktur aber häufig sehr aufwändig. 

Das mit der Kritik angesprochene ARE sieht die Situation allerdings ganz anders. Pro Kopf erhielten die kleinen Agglomerationen mehr Geld, sagt Sprecher Michael Furger. «Aber absolut gesehen ist dem überhaupt nicht so.» Seit der ersten Generation würden in die grossen Agglomerationen die meisten Bundesgelder fliessen.

«Grosse Agglomerationen können aufgrund der beengten Platzverhältnisse im urbanen Raum oft nur durch kostenintensive Projekte insbesondere im ÖV Wirkung erzielen», sagt Furger. «Hingegen können kleine Agglomerationen insbesondere in flächigen Aufwertungen von Strassen und im Langsamverkehr viel erreichen. Zudem ist zu beachten, dass Massnahmen in kleineren Agglomerationen oft auch den grossen urbanen Zentren dienen – etwa durch die Verlagerung auf den ÖV an Verkehrsdrehscheiben.»

Das ARE denkt auch nicht daran, künftig das Verhältnis von Kosten zur Bevölkerungs- und Beschäftigtenzahl bei den Agglomerationsprogrammen stärker zu berücksichtigen. «Das Ziel des Programms Agglomerationsverkehr ist nicht, mit der Giesskanne Bundesmittel zu verteilen, sondern die wirksamsten Projekte mitzufinanzieren, unabhängig von der Grösse der Agglomeration», so Furger.

Und sowieso sei der Kanton Zürich mit seiner Kritik nicht nur alleine, sagt Furger. «Vielmehr haben Vertreter des ländlichen Raums und von kleineren Agglomerationen kritisiert, dass zu viele Mittel in die grossen Zentren fliessen.»


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