Mobilitätsforscher Thomas Sauter-Servaes: «Wollen wir uns auf den Lorbeeren ausruhen?» (Abo)

Thomas Sauter-Servaes. Bild: ZHAW / Vanessa Püntener

Thomas Sauter-Servaes ist einer der gefragtesten Mobilitätsforscher. Der Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) warnt vor negativen Folgen des Homeoffice, einer Technologie-Euphorie beim Autoverkehr und sagt, warum der internationale Bahnverkehr nicht vorankommt.

von Stefan Ehrbar
28. Mai 2021


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Herr Sauter-Servaes, die ZKB geht davon aus, dass sich der Pendlerverkehr in der Schweiz mittelfristig um 8 Prozent reduzieren wird, und zwar wegen einer neuen Arbeitskultur mit hybriden Präsenzarbeit und Homeoffice. Das Arbeitspensum im Homeoffice dürfte von 8-12% auf 25-35% steigen. Halten Sie das für realistisch?
Der Anteil unseres Arbeitspensums abseits des klassischen Arbeitsplatzes wird definitiv ansteigen. Wie hoch dieser sein wird, erscheint mir aktuell noch sehr spekulativ. Viel wichtiger ist jedoch die Frage, wie wir diese Chance nutzen, um tatsächlich die negativen Auswirkungen des Verkehrs zu reduzieren. Konkret: Gelingt es uns beispielsweise, mit Coworking Spaces in Velodistanz den Modal-Split im Pendlerverkehr spürbar zu verändern, oder wird das Homeoffice verstärkt für kurze Flugreisen zu Warmwasserdestinationen und hippen Städtezielen genutzt? Die Reboundeffekte im Freizeitverkehr haben durchaus das Potenzial, die positiven Effekte der vermiedenen beruflichen Zwangsverkehre zunichte zu machen.

Sie haben in einem Beitrag auf vbzonline.ch gesagt, ÖV-Betreiber müssten nun den «Pandemie-Schlachtruf flatten the curve» konsequent auf die Stosszeiten anwenden. Wie könnte das konkret aussehen?
Die pandemiebedingte Digitalisierungswelle in der Arbeitswelt gibt uns nicht nur die Möglichkeit, ganze Tage im Homeoffice zu verbringen. Warum nicht den Tag im Homeoffice beginnen und ausserhalb der Hauptverkehrszeiten ins Büro pendeln? Daraus ergäben sich massive Einsparpotenziale im öV. Bislang müssen Infrastruktur wie Fahrzeugflotten wenig effizient auf die zeitlich beschränkte Spitzennachfrage ausgelegt werden. Die neue Flexibilität bei einem relevanten Anteil der Arbeitnehmer gilt es zu nutzen, um mit cleveren Angeboten etwa beim Tarif die Nachfragespitzen zugunsten der Nebenverkehrszeiten zu kappen. Und da kann ich mir durchaus zeitgemässere Konzepte als 9-Uhr-Pässe vorstellen. Bevor sich alte Routinen wieder verfestigen, braucht es jetzt eine Kreativitätsoffensive bei Tarifen und Mobilitätspaketen.

Sie haben in diesem Interview auch die Einbindung von Coworking-Spaces durch den ÖV angesprochen. Wie könnte das geschehen?
Diese könnten ein spannender Baustein der gerade erwähnten Mobilitätspakete sein. Die SBB hat im vergangenen Jahr ein ambitioniertes Ziel formuliert, das den Pariser Ansatz der 15-Minuten-Stadt im Berufsverkehr auf die gesamte Schweiz skaliert. Sie plant bis 2030 den Aufbau eines flächendeckenden Coworking-Netzwerks in ihren Regionalbahnhöfen. Damit soll jede Person in der Schweiz ihren Arbeitsort innerhalb von 15 Minuten mit dem Velo oder dem ÖV erreichen. Der nächste logische Schritt ist es, diese geteilten Arbeitsräume mit den geteilten Beförderungsräumen des ÖV zu einem attraktiven Gesamtangebot aus einer Hand zu kombinieren.

Das erwähnte Paris geht noch weiter und hat während der Pandemie den Verkehr teils radikal umgebaut: Velowege entstanden, Strassen wurden fürs Auto gesperrt, und zwar dauerhaft. Die Stadt Utrecht hat eine Vision für die Innenstadt 2040 vorgelegt, die fast ohne Autos auskommt. In der Schweiz hingegen geschah nichts oder nur wenig dergleichen. Worauf führen sie das zurück?
Der Leidensdruck in der Schweiz ist offensichtlich noch zu gering. Doch ich bin mir sicher, dass in den genannten und weiteren Städten gegenwärtig Blaupausen für eine lebensfreundlichere urbane Mobilität entstehen, an denen die Schweiz langfristig nicht vorbeikommt. Wir müssen uns allerdings entscheiden, ob wir wieder zu den Trendsettern gehören oder uns auf alten Lorbeeren ausruhen wollen.


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