Trotz direkter Bahnverbindung: Kaum ein Land hat einen so starken zweiten Flughafen wie die Schweiz

Macht der Nummer 1 Konkurrenz: Flughafen Genf. Bild: Anton Shakirov / Unsplash

In fast keinem europäischen Land hat der zweite grössere Flughafen eine solche Bedeutung wie Genf. Dieses Jahr konnte der Flughafen die Nummer 1 in Zürich bei den Passagierzahlen teilweise sogar fast einholen. Die Zeichen für Wachstum stehen in der Westschweizer Metropole auf Grün. Eine Analyse.

von Stefan Ehrbar
28. Juni 2022

Die Schweiz ist eines der kleinsten Länder Europas – und hat trotzdem zwei grosse Flughäfen: Das ist der Befund einer neuen Auswertung der europäischen Flugsicherungsbehörde Eurocontrol.

Eurocontrol hat analysiert, wie hoch der Anteil der jeweils zweitgrössten Flughäfen pro Land an allen Flugbewegungen im Land ist – also an Starts und Landungen. Der Befund: Ausser in Montenegro hat kein Land eine derart starke Nummer 2 wie die Schweiz.

Analysiert wurden einerseits die Daten für das Jahr 2021, in welchem die Coronakrise grossen Einfluss auf die Aviatik hatte. So war der Rückgang der Bewegungen in diesem Jahr generell an Flughäfen ohne Hub-Funktion und mit weniger Langstreckenanteil kleiner, weil der Punkt-zu-Punkt-Verkehr in Europa weniger unter Corona-Einschränkungen litt als Langstreckenflüge in die USA oder nach Asien. Diese sind etwa für den Flughafen Zürich wichtig.

Doch Corona erklärt nicht alles: Auch im Jahr 2019 vor der Krise war die Schweiz nach Montenegro das Land mit der stärksten Nummer 2 in Europa.

Konkret betrug der Anteil des Flughafen Genf an allen Starts und Landungen im Jahr 2021 34%, jener des Flughafen Zürich 47 Prozent. Im Jahr 2019 kam Genf auf 36 Prozent und Zürich auf 54 Prozent.

Zum Vergleich: In Deutschland hatte München als zweitgrösster Flughafen im Jahr 2021 einen Anteil von 13 Prozent (nach Frankfurt mit 22%), in Frankreich hatte Orly einen Anteil von 10% (nach Paris-Charles-De-Gaulle mit 21%), in Österreich hatte Salzburg einen Anteil von 8% (hinter Wien mit 70%).

Diese Rangliste erstaunt: Schliesslich ist auch die Westschweiz mit dem Zug ideal an den Flughafen Zürich angebunden, wo das Angebot zudem grösser ist - und auch vergleichbare Länder können keinen so starken zweiten Flughafen aufweisen. Daten der ersten Monate des laufenden Jahres deuten zudem darauf hin, dass Genf weiter Boden gut macht und sein Anteil an den Bewegungen und Passagieren steigen dürfte. Gleichzeitig scheint eine Verlagerung auf die Bahn nicht voranzukommen: Alleine die Swiss fliegt teilweise wieder sechsmal täglich zwischen Zürich und Genf pro Richtung und dürfte damit bis zu 2000 Passagiere pro Tag zwischen den Flughäfen transportieren.

Woran aber liegt die starke Stellung von Genf als Nummer 2?

Zunächst einmal hat sie viel mit Easyjet zu tun. Schon seit fast 20 Jahren baut die Billig-Airline ihr Angebot in der Westschweizer Metropole laufend aus und hielt vor der Pandemie einen Marktanteil von etwa 45 Prozent. Easyjet führt mit vergleichsweise kleinen Kurzstreckenflugzeugen relativ viele Flüge ab Genf durch, was auf das Konto der Bewegungen einzahlt.

Gleichzeitig hat sich die Swiss nicht aus Genf zurückgezogen, wie es in Basel der Fall war, nachdem dort Billigflieger wie Easyjet und Ryanair angriffen. Stattdessen behauptet sich die Swiss mit immerhin noch etwa 12 Prozent Marktanteil weiter in Genf. Viele neue Services und neue Tarifmodelle testet die Airline zunächst in Genf aus. So lancierte die Swiss zunächst in der Westschweiz Tarife ohne inkludiertes Gepäck, günstige Einweg-Flüge und Tarife, bei denen für die Verpflegung separat bezahlt werden muss.

Damit kann die Swiss in der Westschweiz billiger produzieren und preislich zumindest nahe an Easyjet herankommen.

Doch der Wettkampf der beiden Airlines ist nicht der einzige Grund für die starke Stellung Genfs.

Ein weiterer sind die internationalen Organisationen. Zehntausende ausländische Angestellte von UNO, Rotem Kreuz etc. arbeiten in Genf. Sie alle wollen gelegentlich nach Hause fliegen oder müssen mit dem Flugzeug Geschäftsreisen unternehmen. Hinzu kommt, dass die Vernetzung mit politischen Kapitalen wichtig ist. So erklärt sich auch, dass Genf trotz der vergleichsweise kleinen Grösse seines Airports Direktverbindungen nach Washington, aber auch in die UNO-Hauptstadt New York hat.

Ein weiterer Grund ist das kaufkräftige Publikum am Genferseebecken, das grosse Einzugsgebiet mit Teilen Frankreichs und die kulturelle Grenze zur Deutschschweiz, die viele vom Flug ab Zürich abhält. Wer von Lausanne nach New York fliegt, nimmt beispielsweise fast immer den Flug ab Genf - selbst wenn das zusätzliches Umsteigen in Paris oder Zürich bedeutet.

Und nicht zuletzt ist der Aufschwung des Genfer Flughafens auch Zeichen der prosperierenden Wirtschaft in der Boomregion Genfersee, die in den letzten Jahren auch einwohnermässig stark gewachsen ist. «Die Wirtschaftsregion Westschweiz hat sich im vergangenen Jahrzehnt als äusserst dynamisch erwiesen», schrieb die Grossbank Credit Suisse Mitte Mai in einer Analyse. «Insgesamt ist es der Romandie trotz ihrer geografischen und ökonomischen Vielfalt gelungen, beim BIP, den Beschäftigungszahlen und der Bevölkerung ein Wachstum über dem Schweizer Durchschnitt zu erzielen.» Auch die Coronakrise habe die Region gut weggesteckt.

Gleichzeitig ist die Westschweizer Bevölkerung sehr jung: Die Kantone Waadt, Genf und Freiburg weisen mit unter 17 % den landesweit niedrigsten Anteil an Seniorinnen und Senioren (65 Jahre und älter) auf, schreibt die Bank. Für den Flughafen sind das gute Nachrichten, denn jüngere Menschen fliegen deutlich häufiger. Hinzu kommt, dass die Westschweiz zwischen 2000 und 2020 bevölkerungsmässig durchschnittlich um 1,2 Prozent pro Jahr gewachsen ist, die Schweiz insgesamt aber nur um 0,9 Prozent. «Dieses Wachstum erklärt sich durch den positiven Beitrag der internationalen Zuwanderung», schreibt die Bank. «Diese ist Ausdruck der wirtschaftlichen Dynamik, welche Zuwanderinnen und Zuwanderer anzieht, deren durchschnittliches Bildungsniveau in allen Westschweizer Kantonen über demjenigen der Bevölkerung liegt» - alles Faktoren, die dem Flughafen zugute kommen.

Dieses Jahr gab es erstmals Monate, in denen in Genf beinahe so viele Passagiere abgefertigt wurden wie in Zürich. Mit der Erholung der Langstreckenflüge, die in Zürich bedeutender sind, dürfte sich der dortige Flughafen zwar wieder stärker erholen. Doch insgesamt dürfte Genf auch in den nächsten Jahren wohl stärker wachsen als Zürich. Ihren Teil dazu trägt auch die Bahn bei: Mit dem Léman Express hat sich die Anreise mit dem ÖV an den Flughafen für grosse Teile der Kantone Waadt, Genf und des angrenzenden Frankreichs verschnellert.

Mit dem Ende 2021 neu eröffneten Terminal L'Aile Est für Langstreckenflüge macht der Flughafen zudem klar, dass er nicht nur Anlaufstelle für Europa-Flüge sein will. Bereits heute werden einige Langstrecken-Flüge aus der Schweiz exklusiv ab Genf angeboten - insbesondere nach Afrika. Die Voraussetzungen stehen gut, dass sich diese Entwicklung verschärfen könnte und dass künftig auch Deutschschweizer häufiger den Zug an den Genfer Flughafen nehmen werden.

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