Bundesrat Albert Rösti (SVP) verspricht: Der Ausbau der Autobahnen, über den am 24. November abgestimmt wird, werde nicht zu Mehrverkehr führen. Ein aktuelles Beispiel aus der Schweiz widerlegt diese Aussage. Dennoch spricht auch einiges für die Ausbau-Projekte. Die exklusive Analyse.
von Stefan Ehrbar
4. November 2024
Bundesrat Albert Rösti (SVP) ist sich sicher: Der Autobahn-Ausbau, über den die Schweiz am 24. November abstimmt, führt zu keinem zusätzlichen Verkehr. Die sechs Ausbauprojekte, etwa der 6-Spur-Ausbau zwischen Schönbühl und Kirchberg auf der A1 bei Bern oder zwischen Coppet, Nyon und Le Vegeron, schafften keine neuen Bedürfnisse. «Niemand wird wegen des Ausbaus auf das Auto umsteigen», sagte Rösti kürzlich dem Online-Portal Watson. Schliesslich würden keine neuen Strassen gebaut.
Damit versucht der federführende Bundesrat eines der wichtigsten Argumente der Gegner zu entkräften, nämlich dass neue Strassen zu mehr Verkehr führen und jeder Ausbau nach einigen Jahren wieder zu neuen Staus und Engpässen führt. Dieses Phänomen wird induzierter Verkehr genannt. Doch hat Rösti recht?
Sein eigenes Bundesamt für Strassen (Astra) kommt zu einem anderen Schluss. Das zeigt sich anhand des letzten grossen Ausbaus einer Schweizer Autobahn. Die Zürcher Nordumfahrung auf der A1 wurde in den vergangenen Jahren erweitert. Seit Frühling 2020 ist der Abschnitt zwischen Zürich-Affoltern und der Verzweigung Zürich-Nord in beide Richtungen je drei- statt vorher zweispurig befahrbar.
In der Folge nahm der Verkehr stark zu. Zwischen 2017 und 2022 registrierte das Astra an der Zählstelle Zürich-Seebach eine Zunahme um 15 Prozent. Dieses Wachstum sei «doch sehr gross», schreiben die Fachleute des Astra in ihrem aktuellsten Verkehrsfluss-Bericht: «Es lässt sich mit den zusätzlichen Fahrstreifen je Richtung erklären».
Vor gut einem Jahr wurde ein weiterer Ausbauschritt fertiggestellt: Seither ist in Richtung Bern die neue, dreispurige Gubrist-Röhre in Betrieb statt der zuvor zweispurigen.
Seither wächst der Verkehr noch stärker an. Zwischen Juni 2023 und Juni 2024 nahm er gemäss Daten des Astra auf dem Nordring um 4,1 Prozent zu. Zum Vergleich: Auf derselben Autobahn in Renens VD und auf dem Felsenauviadukt in Bern nahm der Verkehr im selben Zeitraum sogar ab. Wenn Ende 2027 auch in Richtung St. Gallen vier statt bisher zwei Spuren durch den Gubrist zur Verfügung stehen werden, dürfte sich das Wachstum erneut beschleunigen.
Dieser Effekt des Ausbaus auf die Verkehrsmenge zeigt sich auch in einer längerfristigen Beobachtung. Noch 2018 war der Nordring Zürich weniger stark befahren als Abschnitte der A1 in der Westschweiz oder in Bern. Etwa im Jahr 2021 hat sich das geändert, wobei der Zeitpunkt wegen fehlenden Daten nicht exakt bestimmt werden kann. Während der Corona-Pandemie entwickelte sich der Verkehr auf dem Nordring in Einklang mit dem Rest der A1. Spätestens seit 2023 allerdings nimmt er dort viel stärker zu. Mittlerweile ist der Zürcher Nordring deutlich stärker befahren als die A1 bei Bern oder in der Westschweiz.
Das Astra argumentiert denn auch damit, dass der Verkehr dank Ausbauten von Ausweichrouten über Dörfer und städtische Quartiere wieder auf die Autobahn gelenkt wird. Wenn der Verkehr dort flüssig läuft, so die Überlegung, weichen Autofahrende nicht mehr auf das untergeordnete Strassennetz aus.
Dass es zu dieser Entlastung kommt, ist alles andere als sicher. Denn die zusätzlichen Autofahren, den die Ausbauten generieren, starten nicht bei der Autobahneinfahrt und enden bei einer Ausfahrt, sondern belasten auch die Gemeinde- und Kantonsstrassen zusätzlich.
Das Beispiel der Zürcher Nordumfahrung zeigt dies exemplarisch auf. Auf diesem Autobahnabschnitt nahm der Verkehr zwischen 2018 und 2023 um über 20’000 Fahrzeuge pro Tag zu. Auf dem untergeordneten Strassennetz, das damit hätte entlastet werden sollen, wurde zwar teilweise durchaus eine Abnahme verzeichnet, aber nicht annähernd im selben Umfang. Auf der Wehntalerstrasse in Zürich-Affoltern nahm der Verkehr im selben Zeitraum um knapp 1’800 Fahrzeuge täglich ab, auf der Rosengartenstrasse in der Stadt Zürich sank die Zahl der Fahrzeuge, die täglich stadteinwärts unterwegs waren, zwischen 2018 und 2022 um etwa 2300 pro Tag auf 22’600. Auch im Milchbucktunnel stadteinwärts wurden jeden Tag gut 1’000 Fahrzeuge weniger gezählt.
Auf anderen Strassen im direkten Umfeld der Nordumfahrung wurde hingegen sogar eine Zunahme registriert – etwa auf der Wehntalerstrasse in Regensdorf, wo die Zahl der Fahrzeuge zwischen 2018und 2023 um 2’400 Fahrzeuge täglich zulegte. Auch auf Abschnitten der Zürcherstrasse in Weiningen und Unterengstringen wurden zunehmende Verkehrsmengen registriert, genauso wie auf der Glattalstrasse zwischen Dübendorf und Zürich. Von einer grossflächigen Entlastung durch den Ausbau der Autobahn kann keine Rede sein.
Das heisst nicht, dass die Ausbauten keinen Einfluss auf den Verkehrsfluss hatten. Die in der Regel einspurigen Kantons- und Gemeindestrassen mit ihren Kreuzungen, Signalen, Kreiseln und tiefen Tempolimits bieten deutlich weniger Kapazität als eine Autobahn. Schon eine in absoluten Zahlen geringe Abnahme des Verkehrs kann im Einzelfall bedeuten, dass der Verkehr flüssiger läuft und es zu spürbar weniger Stau kommt. Umgekehrt sind diese Strassen schon bei wenig Ausweichverkehr von den Autobahnen überlastet. Der Effekt von Autobahnausbauten auf das untergeordnete Strassennetz sollte deshalb auch nicht überschätzt werden. Schon heute sind die Autobahnen in aller Regel selbst bei Stau die schnellste Option. Um Ausweichverkehr bei Stau auf Autobahnen zu verhindern, ist etwa wichtig, dass Navigationsgeräte nicht auf das untergeordnete Strassennetz lenken. Das kann deutlich günstiger erreicht werden als mit Ausbauten der Autobahn - etwa mit Dosierampeln, die den Abfluss von Autobahnen steuern. Dies wird an verschiedenen Stellen bereits seit Jahren so praktiziert.
Die Zürcher Daten bestätigen, was sich seit Jahren auf der ganzen Welt zeigt: Wenn eine Strasse ohne zusätzliche Kosten genutzt werden kann, tendiert die Nachfrage dazu, die Kapazität zu übersteigen.
Wenn es auf einer Autobahn wegen Überlastung zu Stau kommt, wächst der Verkehr in der Folge weniger schnell oder verteilt sich anders. Einige Menschen wechseln beispielsweise auf den öffentlichen Verkehr, wenn die Wartezeit zu lang wird, verlegen ihre Fahrten in Randzeiten, wenn sie zeitlich flexibel sind, oder suchen eine Arbeitsstelle näher an ihrem Zuhause.
Der US-Städteplaner Stephen H. Graham hat kürzlich auf dem Portal «Threads» auf ein prominentes Beispiel dieses Effekts hingewiesen. Die brasilianische Metropole São Paulo führte im Jahr 1996 ein System ein, das die Luftverschmutzung durch die Autos und die Staus reduzieren sollte. Seither gilt in den Stosszeiten an Montagen in grossen Teilen der Stadt ein Fahrverbot für Autos, deren Nummernschild auf 0 oder 1 endet. Am Dienstag gilt dasselbe für Nummernschilder mit der Endung 2 und 3 und so weiter.
Rein mathematisch hätte damit an jedem Werktag in der Stosszeit der Verkehr um 20 Prozent abnehmen sollen. Das war aber nicht der Fall. Nur gerade im ersten Jahr nach der Einführung wuchs der Autoverkehr weniger stark an, seither nimmt er wieder im gewohnten Tempo zu. Als 20 Prozent der Nummernschilder verschwanden, floss der Verkehr für eine kurze Zeit flüssiger, doch genau dieser Effekt zog wieder mehr Autofahrerinnen und Autofahrer an - und zwar so lange, bis die Staus respektive die Wartezeiten wieder die zuvor übliche Dauer erreichten und deswegen wieder Lenkerinnen und Lenker begannen, sich nach Alternativen umzusehen.
Mit diesem Effekt rechnet selbst das Astra. Das Amt geht davon aus, dass der Ausbau der A1 zwischen Nyon und Genf die Kapazität von heute 90'000 auf 130'000 Autos pro Tag erhöhen würde. Doch schon 2040 - etwa 12 Jahre nach der Vollendung des Ausbaus - würde wieder die gleiche Stausituation herrschen. Während der Verkehr auf der Autobahn momentan relativ langsam zunimmt und ohne Ausbau ab dem Jahr 2028, wenn die Kapazitätsgrenze erreicht ist, laut Berechnungen von Röstis Fachleuten etwa stabil bleiben dürfte, würde er mit dem Ausbau auf sechs Spuren zwischen 2028 und 2030 um 14 Prozent pro Jahr steigen.
Dieselben Effekte gibt es auch bei anderen Verkehrsmitteln. Wird die Eisenbahn ausgebaut, hat dies ebenfalls Mehrverkehr zur Folge. Aus klimapolitischen Überlegungen ist daher wenig gewonnen, wenn der ÖV und das Strassennetz gleichermassen ausgebaut werden: Der Verkehr nimmt dann einfach bei beiden Verkehrsträgern zu, ohne dass es zu einer Verschiebung der Anteile kommen würde. Aus der Forschung bekannt ist, dass die Bepreisung von Strassenraum etwa in Form von Road Pricing die wirkungsvollste Methode ist, um Strassen zu entlasten. Mit einer tageszeitabhängigen Gebühr hat etwa London sein Verkehrsproblem in den Griff gekriegt. Seit etwa 20 Jahren gibt es dort Road Pricing - und obwohl die Bevölkerungszahl der Metropole seither um etwa 1,6 Millionen auf knapp 8,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner gewachsen ist, sank der Autoverkehr innerhalb der Maut-Zone um etwa ein Drittel. Dies gelang, weil gleichzeitig der öffentliche Verkehr ausgebaut und das Netz für Velofahrerinnen und -fahrer verbessert wurde.
Das Beispiel zeigt auch: Dass eine steigende Bevölkerung zu mehr Autoverkehr führt, ist kein Automatismus, den die Politik einfach hinnehmen müsste. Dafür gibt es sogar ein Schweizer Beispiel. Im Baselbieter Leimental wuchs die Bevölkerung seit dem Jahr 2000 um knapp 20 Prozent. Der öffentliche Verkehr wurde stark ausgebaut, etwa mit dem neuen Tram 10 und mehr Bussen. Auf der Strasse hingegen fand kein grösserer Ausbau statt. Die Folge: Im Jahr 2022 zählten Bus und Tram fast 15 Prozent mehr Passagiere als noch 2010, während 10 Prozent weniger Autos gezählt wurden. Das geht aus Daten des Kanton Basel-Landschaft hervor. Doch auch in Städten wie Zürich, Basel und Bern nimmt der Anteil des Autos seit Jahren ab, obwohl sie immer mehr Einwohnerinnen und Einwohner zählen.
Tatsächlich kann der Abbau von Strassen sogar dazu führen, dass Verkehr einfach verschwindet. Eine aktuelle Schweizer Forschungsarbeit hat dieses Phänomen anhand von zehn Schweizer Beispielen untersucht - etwa der Sperrung des Zürcher Limmatquais für den Autoverkehr, Spurabbauten auf der A1 in St. Gallen während der Sanierung der Autobahn oder die Sperrung der Luzerner Bahnhofstrasse im Jahr 2020. Laut dem Studienautor führt ein Abbau der Strassenkapazität dann dazu, dass ein erheblicher Teil des Verkehrs verschwindet, wenn drei Erfolgsfaktoren erfüllt, sind. Erstens: Je weniger freie Kapazität auf Alternativrouten zur Verfügung steht, desto eher führt ein Abbau von Strassen dazu, dass die Verkehrsmenge abnimmt. Ansonsten verlagert sich der Verkehr einfach. Zweitens: Je besser alternative Verkehrsmittel wie der ÖV, Fuss- und Velowege verfügbar sind, desto eher nimmt der Autoverkehr ab. Drittens: Je besser Autofahrer informiert werden, desto eher können sie sich vorbereiten und Alternativen abseits des Autos suchen.
Ein Ausbau von Autobahnen wird zu mehr Verkehr führen. Nach ein paar Jahren wird die Stausituation wieder die gleiche sein. Allerdings gibt es auch aus verkehrsplanerischer Sicht Argumente, die für den Autobahnausbau sprechen - etwa, wenn dadurch die Lebensqualität verbessert werden kann. Der Bau der Zürcher Westumfahrung hat zwar zu einer starken Zunahme des Verkehrs auf der Autobahn geführt, doch innerhalb der Stadt Zürich konnten Transitstrassen aufgehoben und ganze Quartiere beruhigt werden. Jahrzehnte zuvor konnten die Dörfer am Walensee durch den Bau der Autobahn vom Verkehr entlastet werden. Allerdings handelte es sich in den beiden Fällen um den Neubau einer Autobahn, nicht um den Ausbau einer bestehenden.
Doch auch in der aktuellen Abstimmungsvorlage gibt es gute Gründe, die für einzelne Projekte sprechen. Der vorgesehene Rheintunnel in Basel etwa könnte Quartiere in der Stadt Basel dauerhaft vom Verkerh entlasten. Vom Ausbau der Autobahn in St. Gallen verspricht sich das Astra eine ähnliche Wirkung innerhalb der Stadt - wenngleich Fachleute kritisieren, dass gleichzeitig ein neuer Autobahnanschluss innerhalb der Stadt geplant wird, der die Verkehrsmengen erhöhen könnte. Die vorgesehene zweite Röhre des Fäsenstaubtunnels in Schaffhausen wiederum könnte einen positiven Effekt auf die Sicherheit haben. Heute herrscht im Tunnel Gegenverkehr, was oft zu Unfällen führt.
Zudem: Selbst wenn sich mit einem Autobahn-Ausbau die Engpässe nur verlagern sollten und nach ein paar Jahren wieder eine ähnliche Überlastung vorherrscht: Immerhin für ein paar Jahre kann dank ihnen auf den betroffenen Abschnitten der Verkehrsfluss tatsächlich verbessert werden. Die Schweizerinnen und Schweizer müssen nun entscheiden, ob sie diese Vorteile höher gewichten als die Nachteile.
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