Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht: «Autos waren schon immer attraktiv und werden es auch bleiben»

Timo Ohnmacht. Bild: zvg

Der Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht von der Hochschule Luzern sagt: Der öffentliche Verkehr in der Schweiz lässt sich nur noch im Kleinen optimieren. Um seinen Anteil zu verdoppeln, wie es die Branche plant, müsste das Auto stark benachteiligt werden, sagt er im Interview. Die Coronakrise habe diesem aber in die Karten gespielt.

von Stefan Ehrbar
1. September 2021

Herr Ohnmacht, der Bund will bis 2050 den Anteil des ÖV am Modal Split verdoppeln. Auch der Verband Öffentlicher Verkehr (VöV) hat eine Studie vorgelegt und sieht verschiedene Massnahmen vor, etwa eine Verbesserung des Angebots in Agglomerationen, mehr Direktverbindungen oder Angebote für den Freizeitverkehr. Welche Ansätze erachten Sie als zielführend?
Der Modal Split ist ein Indikator der gerne verwendet wird. Häufig geht die Referenz in den politischen Diskussionen und auch den Überschriften in den Medien verloren. Handelt es sich hierbei um den Anteil des öffentlichen Verkehrs an allen Wegen, an den zurückgelegten Tagesdistanzen der Bevölkerung oder gar an den Unterwegszeiten? Als Sozialwissenschaftler habe ich die Menschen und ihre Tagesdistanzen im Alltag im Blick. In der Schweiz werden aktuell von den täglichen 37 Kilometern etwa 7 Kilometer mit der Eisenbahn und rund 2 Kilometer mit dem öffentlichen Strassenverkehr zurückgelegt. Das macht einen distanzbezogenen Modal Split des öffentlichen Verkehrs von rund 24 Prozent aus. Aus meiner Sicht sollte die Zielsetzung nicht nur auf den Anteilen der Verkehrsmitteln liegen. Vielmehr sollte das Ziel auch sein, dass die Tagesdistanzen pro Person in Zukunft nicht zu nehmen sollen. Es ist dann klar, dass die Verdopplung des Anteils auf Kosten von anderen Verkehrsmittel ginge.

Wie meinen Sie das?
Ein verdoppelter Anteil des Modal Splits des öffentlichen Verkehrs auf 48 Prozent bezogen auf die Distanzen würde bedeuten, dass die Schweizerinnen und Schweizer täglich anstatt 24 Kilometer nur noch 15 Kilometer mit dem Auto fahren würden. Anhand der Zeitreihe der Schweizer Verkehrsverhaltenskennzahlen, wo Vergleiche seit dem Jahre 1994 möglich sind, konnten noch nie solch grosse Verlagerungseffekte ausgemacht werden. Ausgenommen sind natürlich kurzfristige Einflüsse von Massenquarantänen. Selbst aber nach Abschluss der Massnahmen aus Bahn 2000 waren die Verlagerungseffekte nicht auf dieser Flughöhe, obwohl diese merklich die Anteile des öffentlichen Verkehrs begünstigt haben.

Wie kann das nun gelingen?
Der VöV hat ja bereits ein konkretes Massnahmenbündel mit 38 Stossrichtungen aufgezeigt (Mobimag berichtete). Die Zielsetzung für eine Verdopplung des öffentlichen Verkehrs kann aber nur mit übergeordnete Massnahmen politisch reguliert werden. Dies bedeutet, den ÖV politisch stark zu bevorteilen und das Autofahren stark zu benachteiligen. Das käme einer sektoralen Verkehrspolitik gleich, wie wir sie seit der 1960er Jahren während der Automobilisierung hatten. Wir brauchen aber eine integrierte Verkehrspolitik.

TCS-Präsident Peter Goetschi hält davon wenig: Damit werde der ÖV auf unfaire Art und Weise bevorzugt. Es mache keinen Sinn, wenn künftig ein autonomes elektrisches Taxi einem fast leeren Tram weichen müsse. Es müssten alle Verkehrsträger, auch das Auto einbezogen werden. Wie sehen Sie das?
Das ist genau der Punkt den ich ansprechen möchte. Verdopplungsziele für Makrokennzahlen, wie etwa für die Anteile des öffentlichen Verkehrs greifen in der Tat zu kurz, da die Verkehrsmittel an unterschiedlichen Orten ihre Stärken haben. Die oft kolportierte Formel, dass der öffentliche Verkehr automatisch mit Nachhaltigkeit gleichzusetzen sei, hat für mich keine Gültigkeit. Die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs ist genauso ursächlich für das Distanzwachstum im Verkehr und der zumindest sternförmigen Zersiedlung der Schweiz. Es geht vielmehr darum die Aktivitätsräume der Bevölkerung im Alltag zu verkleinern, also den Lebensstil der kurzen Wege zu unterstützen und einzufordern und dann die Verkehrsmittel wesensgerecht einzusetzen.

Was braucht es dafür?
Dafür müssen wir örtliche und situative Verkehrskontexte besser bewältigen können, anstatt eine aggregierte Sicht auf die Schweiz zu werfen. Das Verdopplungsziel des ÖV kann in der Stadtpolitik vielleicht gut realisiert werden, da dort der Autoverkehr schon lange an seine Grenzen stösst. Natürlich können wir hier die Fragen gemäss Henri Lefebvre stellen: Wem gehört die Stadt? Ich beobachte aber eine zunehmende Deutungshoheit über den städtischen Lebensraum der Stadtverwaltungen und der Stadtbevölkerung, die die Stadt als Aufenthaltsraum verstehen und nicht als Hindernis für die Raumüberwindung. Im ländlichen Raum und auf gut ausgebauten Autobahnen kann das Auto zudem die bessere Wahl sein.

Wäre nicht eine deutliche Senkung des Preises oder allenfalls gar ein kostenloser ÖV der beste Hebel?
Diese Massnahme erfährt bei Bevölkerungsbefragungen immer hohe Zustimmungswerte und es wird auch zumindest die hypothetische Mehrnutzung positiv beantwortet. Allerdings lebt der öffentliche Verkehr in der Schweiz bereits jetzt auf grossem Fuss und wird getragen durch ein grosszügiges Finanzierungsmodell. Die Kostenwahrheit, also realistische Preise für das Unterwegssein, die sowohl die Fixkosten des Systems als auch die Umweltbelastung beinhalten, sind sowohl bei Auto als auch Bahn gefragt. Durch günstigere ÖV-Preise wird das Distanzwachstum in der Mobilität indirekt gefördert.

Um «unnötige» Mobilität zu vermeiden, könnte das ja z.B. an eine Arbeitgeberbestätigung gekoppelt werden. Was halten Sie von dieser Idee?
Ich finde, Arbeitgeber sollten ihre Mitarbeitende im Nahumfeld rekrutieren. Eine Klausel, wie etwa bei gleicher Qualifikation erhält die Person mit dem kürzesten Arbeitsweg den Vorzug, finde ich als Massnahme sinnvoll.

In vielen Städten scheint im Bereich öffentlicher Verkehr der Wille für den grossen Wurf zu fehlen. So ist etwa nur schon die Idee einer Metro in Luzern stark umstritten, in Zürich spricht sich der Regierungsrat regelmässig gegen neue unterirdische Bahnverbindungen etwa unter die Hochschulen aus. Ist das ein Problem?
Die Grundfrage ist, ob man das bestehende System optimieren oder auf neue Ansätze setzen möchte. Hier gibt es viele Probleme, nebst der Kosten durch die Bodenbeschaffenheit ist auch die Anbindung an das bestehende Netz zentral und die Standortfrage der Zugangsorte. Die Schweiz und deren Verkehrsinfrastruktur ist gebaut. Die Technik wird unsere Verkehrsprobleme nur zum Teil richten. Unsere Zeit ist von einem Technikoptimismus geprägt. Bestes Beispiel sind die zum Glück abschwächenden Diskussionen um das autonome Fahren. Wir müssen wieder die Menschen mit ihren Aktionsräumen und Einstellungen gegenüber der Mobilität ins Zentrum des Interesses rücken und die Diskussion auf die sie umgebenden Raum- und Zeitregime lenken.

Gerade in den Städten scheint es der ÖV zunehmend schwer zu haben – Stichworte Tempo 30, Verkehrsbehinderungen und der politische Wille zur Veloförderung. Wie könnte der ÖV in den Städten wieder zulegen?
Das Auto hat sich als sicherer Cocoon während der Coronapandemie weiter etabliert. Das Autotuning mit Showfahrten erfährt bei Jugendlichen eine höheres Interesse, insbesondere in Städten, die als Bühnen herhalten müssen. Der ÖV ist bereits auf sehr hohem Niveau entwickelt. Taktverdichtungen und Gefässvergrösserungen sind kaum noch realisierbar. Die Bedarfsverkehre, die Grenzen zwischen Auto und Bus verschwimmen lassen, halten sich in ihrer Entwicklung zudem auch in Grenzen. Für mich erscheint es daher schlüssig, dass bei einem so hohe Ausbaugrad des öffentlichen Verkehrs der Fokus auf der Mobilität mit Muskelkraft liegt. Was mir dabei gefällt ist, dass die Stadt hierbei nicht als Hindernis der Raumüberwindung verstanden wird, sondern als Ort des Verweilens, des «Dérive», der mit Muskelkraft angeeignet werden kann. Im Fuss- und Langsamverkehr finden sich die zukünftigen Entwicklungsschwerpunkte der Verkehrspolitik.

Denken Sie, es braucht längerfristig U-Bahnen in der Schweiz? Wenn ja, wo?
Die Metro in Luzern fand ich als lokale Lösung und bezogen auf das Konzept immer vielversprechend. Nationale Lösungen wie die Swiss Metro widersprechen dem Lebensstil der kurzen Wege und fordern lediglich einen Mobilitätsstil,  der City-to-City-Pendeln begünstigt. Das City-to-City Pendeln haben wir bereits mit den Ausbauschritten im Infrastrukturprogramm Bahn 2000 gefördert und somit die Distanzen zwischen Wohnen und Arbeiten erhöht.

Welche Visionen für den ÖV in der Schweiz finden Sie besonders spannend?
Forscherinnen und Forscher sind sehr gut darin, die Vergangenheit zu beschreiben, eher mässig gut die Gegenwart zu deuten und schlecht darin, die Zukunft voraus zu sagen (lacht). Sie sehen, das ich kein Zukunftsforscher bin. Es sind eher die kleine Veränderungen die mir auffallen. Das Wiederbeleben der Nachtzüge finde ich eine sehr gute Entwicklung, um den Flügen in Europa den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Der ÖV ist relativ zweckmässig eingerichtet. Müsste sich das ändern – etwa mit mehr Unterhaltung an Bord oder besseren Arbeitsmöglichkeiten?
Es ist immer noch ein Massenfortbewegungsmittel mit vielen sich überlagernden Reisezwecken. Die Menschen sind mit ihren mobilen Endgeräten des Internet heutzutage bestens ausgestattet. Als wichtig erachte ich, die Schnittstellenmobilität zu beachten. Also: Kann das Velo mit in den Zug genommen werden? Ruhe- und Büroabteile sind ebenfalls wichtig.

Im Jahr 2020 ist der Motorisierungsgrad in der Stadt Zürich erstmals seit zehn Jahren wieder leicht gestiegen. Denken Sie, das ist ein Einmaleffekt oder wird das Auto wieder attraktiv?
Autos waren immer schon attraktiv und werden es auch bleiben. Während Corona wollten sich viele Personen nicht im öffentlichen Verkehr mit anderen Menschen exponieren, um zum Beispiel Risikopersonen im familiären Umfeld nicht zu gefährden. Dies hat die Autonutzung begünstigt. Ist es erstmal angeschafft, so überwiegen auch die Vorteile. Es ist immer da, wenn man es braucht. Das Argument, dass das Auto von 24 Stunden insgesamt 23 Stunden steht und es somit Stehzeuge sind, hat mir nie eingeleuchtet. Es ist die Verfügbarkeit, also die Gewährleistung der Beweglichkeit, die auch eine Form der Mobilität ist und damit Freiheit bedeutet. Ich vermute daher, die Anteile werden sich auch zukünftig halten.    

Mit der Elektromobilität verschwindet auch das schlechte Gewissen der Autofahrer. Zurecht?
Zum Teil schon, da nicht vor Ort Schadstoffe emittiert werden und der Geräuschpegel sich in Grenzen hält und Elektroautos positiv in der Gesellschaft belegt sind und damit Ansehen geniessen. Es geht aber darum, weniger Autos, zumindest in Städten, zu haben. Es geht nicht darum, den Fuhrpark zu elektrifizieren. Es ist eine zwischenzeitlich gut funktionierende Brückentechnologie für den besseren Einsatz der Automobilität mit wachsender Infrastruktur.  

Viele Städte setzen stark auf das Velo. Halten Sie das für eine gute Strategie – oder ist das Verkehrspolitik für junge, gesunde Menschen und schönes Wetter?
Das Velo hat sich etabliert durch ein Wechselspiel aus Infrastrukturausbau und wachsender Beliebtheit und Ansehen seitens der Bevölkerung. Die Nutzung erfolgt durch alle gesellschaftlichen Schichten und Lebensphasen hindurch. Der ÖV lässt sich nur noch im kleinen optimieren. Im Langsamverkehr stehen die grossen Würfe noch bevor.

Im internationalen Verkehr ist das Fliegen immer noch das beliebteste Fortbewegungsmittel. Es wird für die Zeit nach Corona erwartet, dass das «ramp up» der Airlines mit einem aggressiven Preiswettbewerb einhergeht. Müsste das unterbunden werden – und wenn ja, wie?
Meine Antwort ist kurz: Kerosin besteuern und Kostenwahrheit einfordern, dies auch bei den Anstellungsverhältnissen des Flugpersonals am Boden und in der Luft. Zudem das Nachtzugnetz als Alternative ausbauen. Dabei auch Betten für grosse Menschen in Zügen bereitstellen (lacht).

Wie bewegen Sie sich selbst fort?
Zu Fuss in der Stadt ist meine erste Wahl. Für das Velo in der Stadt bin ich zu vergeistigt, das kann gefährlich werden (lacht). Im Zug gerne in der ersten Klassen und im Ruhewagen, wobei ich, wenn ich mit dem Zug unterwegs bin, meist im Spielwagen anzutreffen bin. Für lange Strecken, beispielsweise in den Schwarzwald, mit dem Auto auf der Autobahn und das gerne in Begleitung.

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