«Mister Fahrplan» fordert im Streit um die Bahn-Milliarden: Jetzt müssen wieder die SBB planen – der BAV-Chef widerspricht

Wer soll für den Fahrplan zuständig sein? Bild: SBB

Seit einigen Jahren ist der Bund für den Fahrplan der Bahn verantwortlich. Das habe sich als grossen Fehler herausgestellt, sagt der frühere SBB-Fahrplanchef Werner Wildener. Er will Albert Rösti davon überzeugen, dass sein Amt eine wichtige Aufgabe an die SBB abtreten soll. Der Amtschef des Bundesamt für Verkehr widerspricht.

von Stefan Ehrbar
9. Juli 2024

Zuerst schlug der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel Alarm. «Konzeptlos», gar «gesetzeswidrig» sei der Ausbau der Bahn-Infrastruktur, für den bis 2035 etwa 18 Milliarden Franken investiert werden. Zusammen mit Philipp Morf, dem Chef der Planungsfirma Otimon, habe er ein Konzept entwickelt. Es beweise, dass auf dem bestehenden Netz durch Fahrplanoptimierung und Digitalisierung 25 Prozent mehr Züge gefahren werden könnten.

Wenig später schoss der Direktor des Bundesamtes für Verkehr (BAV), Peter Füglistaler, zurück: Weibel habe sich «verrannt», sagte er der «NZZ am Sonntag». Sein Konzept funktioniere nur, wenn Teile des Güterverkehrs auf die Strasse verlagert würden. Die Weibel-Gruppe dementierte zwar. Ihr Konzept will sie aber nicht veröffentlichen. Eine Anfrage von Mobimag beantwortet ein Otimon-Mitarbeiter abschlägig.

Wer hat also recht im Streit um die Zukunft der Bahn – und wo liegen die Probleme? Nun spricht jemand, der es wissen muss: Werner Wildener. Er war von 1984 bis 2004 Leiter der Fahrplan- und Infrastrukturentwicklung der SBB, danach Fahrplanchef und Mitglied der Geschäftsleitung der Infrastruktur-Sparte. Wildener war zuständig für den Fahrplan des letzten grossen Ausbauprogramms «Bahn 2000». In den Medien wurde er als «Mister Fahrplan» oder «Herr der Zeiten» bekannt. In den letzten zehn Jahren beriet er die österreichische Bahn bei der Entwicklung einer landesweiten Strategie für den Fahrplan und die Infrastruktur.

Dass auf dem bestehenden Netz ohne Ausbauten ein Viertel mehr Züge gefahren werden können, hält Wildener für «sehr ambitioniert». Es sei ein Unterschied, ob Externe – wozu er auch das BAV zähle – einen theoretischen Fahrplan zeichnen, oder ob man bei der Bahn die Verantwortung dafür trage, dass dieser auch am Fahrplanwechsel funktioniere, der gut und gerne bis zwanzig Jahre später sein könne.

Die SBB würden schon heute den dichtesten Fahrplan Europas mit doppelt so vielen Intercity-, Regional- und Güterzügen auf dem gleichen Netz betreiben wie vergleichbare Bahnen. Das grösste Potenzial liege darin, einen Fahrplan zu konstruieren, der Kapazität optimal ausnütze.

Die Balance zwischen maximaler Kapazitätsauslastung und den notwendigen Pufferzeiten ist die grösste Herausforderung, die nur beherrscht, wer dicht am Betrieb den aktuellen Fahrplan laufend analysiert und aus den Erfahrungen lernen kann.

Das sei aber im Moment nicht möglich – weil seit 2016 das BAV für die Fahrpläne verantwortlich ist und nicht mehr die SBB. Dies geht zurück auf den Systemwechsel der Ausbau-Finanzierung über den neuen Bahninfrastruktur-Fonds. Dass zeitgleich die Zuständigkeiten verschoben wurden, habe sich als grosser Fehler herausgestellt, sagt Wildener. Die Schweiz sei «übereifrig» vorgegangen: Die Fahrplanplanung an eine Behörde zu delegieren – so weit sei kein EU-Land gegangen.

Einen derart dichten Fahrplan mit möglichst wenig neuen Ausbauten zu konstruieren, wie es ihn in der Schweiz gebe, sei nicht möglich, ohne nahe am Betrieb zu sein. Sonst werde es teuer. Beim BAV sei das Wissen über die Handlungsspielräume im dichten Bahnnetz «schlicht nicht vorhanden». Die Fahrplan-Kompetenz müsse deshalb zurück in die Hände der Bahn.

Wichtig sei, dass sich bei den SBB wieder ein kompetentes Team aus einer Hand um die langfristigen Fahrpläne kümmere. Die Planung dieser Fachleute könne zeigen, wo neue Züge ohne Ausbau möglich seien und wo Investitionen nötig seien – aber so minimal und günstig wie möglich.

Eine Fahrplan-Abteilung gebe es zwar bei den SBB weiterhin, doch die definitiven Entscheide fälle das BAV. Bei diesem sei auch der Kontakt mit den Kantonsregierungen angesiedelt. Ihren Wünschen könne das Amt kaum etwas entgegensetzen, weil ihm der Praxisbezug fehle. Das sei besonders fatal. Früher sei es stets ein SBB-Fahrplanchef gewesen, der den Kantonen beratend zur Seite gestanden sei. Das habe geholfen, die zahlreichen Wünsche «in realisierbare Bahnen zu lenken», bevor ein riesiger Planungsaufwand für Luftschlösser betrieben werde.

Wildener spricht von einer «Spirale von Begehrlichkeiten». Jede Kantonsregierung, jede Politikerin und jeder Politiker habe in der jüngeren Vergangenheit maximale Ausbauten für seine Region gefordert, um vor der Stimmbevölkerung gut dazustehen. Deren Nutzen würden oft in keinem guten Verhältnis zu den Kosten stehen.

Der frühere Fahrplanchef lehnt Ausbauten nicht per se ab. Doch die Schweiz habe derzeit keine abgestimmte Strategie, welches Angebot sie in Zukunft wolle, welche Infrastruktur es dafür brauche und ob sich diese bauen und finanzieren lasse. Viele kleinere bis grosse Ausbau-Wünsche, die derzeit auf dem Tisch liegen, seien politisch motiviert und ohne Bezug zu einem schweizweiten Nutzungskonzept oder einem Nachweis der Wirtschaftlichkeit. Früher hingegen sei «kein Meter Schiene» gebaut worden, ohne dass der vorher erstellte Fahrplan aufgezeigt habe, dass es diesen auch brauche.

Zuerst müsse nun der Fahrplan der Zukunft entwickelt werden. Erst auf dieser Basis könne über die Notwendigkeit und die Priorisierung von Ausbauten entschieden werden.

Mit der Forderung, die Fahrplan-Hoheit wieder in die Hände der SBB zu legen, dürfte sich Wildener beim BAV keine Freunde machen. Dennoch scheint ihm der Zeitpunkt günstig: Nicht nur hat mit Albert Rösti (SVP) ein neuer Bundesrat das Verkehrsdepartement übernommen, an der Spitze des BAV steht ebenfalls ein Wechsel bevor. Peter Füglistaler wird altershalber pensioniert, nun übernimmt seine Nachfolgerin, die Postauto-Managerin Christa Hostettler.

Der ehemalige «Mister Fahrplan» hofft, bald bei ihr oder gar bei Albert Rösti vorsprechen zu können. Bei SBB-Chef Vincent Ducrot hatte er weniger Glück. Dessen Reaktion auf ein Schreiben sei ernüchternd gewesen: «Er hat mir lediglich bestätigt, dass die Verantwortung für die langfristige Planung ans BAV gegangen ist.» Wildener engagiert sich dafür, dass sich das wieder ändert.

Peter Füglistaler hingegen hält nichts von der Forderung, wie er am Freitag auf dem Portal Linkedin schrieb. «Mit jedem Pensionierten, der sich meldet, wird die Sache nicht besser!», schreibt er. Dass die Erstellung des Fahrplans an eine Behörde delegiert worden sei, stimme nicht. «Korrekt ist: Seit 2016 beauftragt das BAV die SBB mit der Erstellung des Netzfahrplans, welcher den Ausbauprogrammen zugrunde liegt. Die Arbeit wird somit weiterhin durch die Fahrplanexperten der SBB geleistet. Im Regionalverkehr werden die Kantone in den Planungsprozess einbezogen, beim Fernverkehr definiert die SBB das Angebot und im Güterverkehr bringt die Güterverkehrsbranche ihre Angebotswünsche ein.»

Die Jahresfahrpläne würden weiterhin in der Verantwortung der SBB liegen. «Die Vergabe der Trassen erfolgt durch die Schweizerische Trassenvergabestelle. Das BAV hat im Jahresfahrplan keine Zuständigkeiten. Auch das Netznutzungskonzept und die Netznutzungspläne, welche die Trassen für die verschiedenen Verkehrsarten sichern, werden ausschliesslich durch die Fahrplanexperten der SBB erarbeitet. Das BAV hat den Auftrag, den Planungsprozess zu steuern, verkehrspolitische Vorgaben einzubringen (wie die Verlagerungspolitik), die raumplanerische Abstimmung sicherzustellen und dass der Ausbau des öV einen Beitrag an die Klima- und Energiepolitik des Bundes leistet. Dies kann eine Unternehmung wie die SBB nicht – und schon gar nicht ein ehemaliger Fahrplanchef, der die Entwicklung der letzten 20 Jahre nicht kennt.»

2 Comments

  1. Leider bemängeln auch die Aktiven die Ausbauvorhaben des BAV im Bereich Bahn. Der CEO der SBB sagt, dass wir das Planen verlernt haben, der CEO der Südostbahn spricht von einem Basar und auch vom Präsidenten der VöV kommt Kritik. Lieber Peter, dass sollte Dir doch zu denken geben.

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