VBSG-Chef Ralf Eigenmann wollte einen Veloverleih aufziehen und sagt: «Unser Kostendeckungsgrad wird sinken»

Ralf Eigenmann ist Chef der VBSG. Bild: Ostwind

Ralf Eigenmann ist Chef der Verkehrsbetriebe St. Gallen (VBSG). Der 61-Jährige ist Mitglied des Strategierat der Alliance Swisspass, der die Entwicklung der Tarife, Sortimente und des Vertriebs des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz steuert. Im Interview erzählt Eigenmann, warum seine Expansion ins Geschäft mit Leihvelos nicht klappte, warum Elektroautos eine Konkurrenz für den ÖV sind und warum die neuen Busse nicht richtig im St. Galler Depot abgestellt werden können.

von Stefan Ehrbar
7. April 2021

Herr Eigenmann, die Passagierzahlen des ÖV sind eingebrochen. Welche langfristigen Folgen wird Corona haben?
Was ich glaube und was ich befürchte, sind zwei unterschiedliche Dinge. Viele sagen, dass Homeoffice auch nach der Pandemie einen grösseren Anteil einnehmen wird. Andererseits haben viele langsam genug davon. Nicht alle haben zuhause ein eigenes Büro, das sie nutzen können, und die sozialen Kontakte fehlen. 


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Der Preisüberwacher Stefan Meierhans fordert eigene GA-Angebote für Menschen im Homeoffice.
Es wird sicher mehr Sitzungen geben, die digital abgehalten werden. Ob das gerade ein so grosses Phänomen wird, dass dafür eine neue GA-Kategorie geschaffen werden muss, ist eine andere Frage. Das können wir jetzt noch nicht beantworten, das wäre Kaffeesatzlesen.

Mit welchen langfristigen Folgen rechnen Sie?
Ich sehe gegenläufige Trends. Die Coronakrise wird Einfluss auf die Passagierzahlen haben. Andererseits wird auch die Klimadiskussion wieder an Fahrt aufnehmen. Wenn die Leute wieder häufiger unterwegs sind, werden sie auch den Dichtestress und die Staus auf den Strassen wieder bemerken. Sie werden auch merken, dass der ÖV nicht so schlimm ist, wenn sie dafür nicht im Stau stehen. Insgesamt wird sich das stetige Wachstum der Passagierzahlen der letzten Jahre sicher etwas abflachen. Hinzu kommt noch, dass Elektroautos beliebter werden. Das nimmt vielen das schlechte Gewissen, das Auto zu nutzen – bis der Platz knapp wird. Auch mit einem Elektroauto im Stau zu stehen, macht keinen Spass. Interessanterweise reklamieren die Leute selten, wenn sie im Stau stehen, aber wenn unsere Busse deswegen verspätet sind, kriegen wir schnell Reklamationen.

In der Coronakrise haben viele das Velofahren für sich entdeckt. Wird das zur Konkurrenz für den ÖV?
Das ist definitiv eine Konkurrenz. Schon als wir 2014/2015 die erste Stagnation beim Wachstum der Fahrgastzahlen sahen, wies ich auf die Konkurrenz durch das Velo hin. In Jahren mit durchschnittlich warmen Wintern und wenig Schnee sehen wir gerade im Nahverkehr, dass das Pendeln per Velo oder E-Bike beliebter wird, solange man dabei nicht schwitzt oder friert. Das wird uns sicher noch beschäftigen.

Die BLT in Basel-Landschaft haben sich deswegen am E-Bike-Verleiher Pick-e-Bike beteiligt. Wäre das für die VBSG auch eine Option?
Ja, ich sehe die Beteiligung an einem Veloverleiher als Möglichkeit. Wir haben das übrigens bereits einmal geprüft und einen Business Case geschrieben, weil ich das wollte. Auch mit den Produzenten von Pick-E-Bike haben wir verhandelt. Es zeigte sich, dass das im Moment für uns nicht möglich ist. Dafür bräuchte es irgendwann die Akzeptanz des Gesetzgebers und ein breiteres Verständnis von öffentlichem Verkehr – nämlich die Einsicht, dass ein öffentliches Bike, das einem nicht privat gehört, auch Teil des ÖV ist. 

Woran scheiterte ihr Geschäftsmodell?
Es wäre natürlich defizitär gewesen. Der ÖV ist zwar meist auch nicht kostendeckend, aber für ihn gibt es Abgeltungen. Ein Veloverleih-Angebot könnten wir nicht subventionieren. Ich habe dann versucht, einen Veloverleih mit einem Private-Public-Partnership-Ansatz aufzuziehen. Es fand sich aber keine Firma, die bereit war, substanzielle Defizite mitzutragen. Ich musste kapitulieren.

Nun hat die Stadt einen Veloverleih ausgeschrieben. Ist das Thema für die VBSG erledigt?
Wir sind offen für eine Zusammenarbeit. Wenn der Gewinner der Ausschreibung einen lokalen Partner will, stehen wir bereit. Wir haben immerhin 22 Stunden pro Tag eine besetzte Leitstelle. Gewisse Dienstleistungen könnten wir gegen Entschädigung durchaus erbringen. 

Seit kurzem fährt der neue Batterie-Trolleybus bei ihnen. Können Sie schon ein erstes Fazit ziehen?
Dafür ist es noch etwas früh. Aber die ersten Rückmeldungen von Kunden und Mitarbeitenden sind sehr positiv. Und Kinderkrankheiten gibt es immer wieder. Ich bin seit mehr als 14 Jahren bei den VBSG. Dass ein neues Produkt auf Anhieb völlig problemlos funktioniert, gibt es kaum mehr. Bei der Komplexität, welche Beschaffungen heute aufweisen, scheint das kaum mehr möglich zu sein.

Welche Beschaffung hat ihnen am wenigsten Probleme bereitet?
Wir haben gerade neulich kleinere Billettautomaten der MG Industrieelektronik GmbH mit der Software der Firma SCS angeschafft, die keine Noten oder Münzen mehr akzeptieren. Das ist mittlerweile erlaubt, weil das Bundesamt für Verkehr die Praxis an die fortschreitende Digitalisierung angepasst hat. Früher mussten noch Noten oder Münzen akzeptiert werden. Diese neuen Automaten akzeptieren nur kontaktlose Zahlungsmethoden – also etwa Kredit- und Debitkarten oder Twint. Diese Geräte funktionieren tatsächlich seit Anfang tadellos. Bei den alten Automaten war das noch völlig anders.

Inwiefern?
Die grossen Automaten, die je nach Konfiguration entweder Karten und Münzen oder Münzen und Noten akzeptieren, haben wir vor 14 Jahren angeschafft. Seit dann haben wir damit Probleme. Anfänglich natürlich mehr und jetzt weniger, aber aus der Welt geschafft wurden sie nie ganz. Auch die Migration auf die neue ÖV-Vertriebsplattform Nova war problematisch. 

Welche Art der Zahlung ist für sie am günstigsten?
Bei den neuen Automaten fällt das Handling des Bargelds weg, das ist natürlich vorteilhaft. Andererseits sind die Gebühren, welche Zahlungsabwickler verlangen, genug hoch. Gerade mit der Postfinance sind wir immer wieder im Clinch.

Mit der Coronakrise dürften kontaktlose Zahlungsmethoden Aufwind erhalten – aber auch die Bezahlung von Tickets übers Smartphone.
Mittlerweile gibt es viele digitale Vertriebskanäle. In unserem Fall sind das etwa der Webshop des Tarifverbunds Ostwind, die App Fairtiq oder unsere eigene App namens «fastfinder». Dabei handelt es sich um eine Art digitales Sackmesser für den ÖV. Die App bietet Echtzeitinformationen, sie berechnet Routen und weist den Weg zur nächsten Haltestelle, integriert externe Anbieter etwa von Konzerttickets und man kann in ihr gleich ein Ticket kaufen – entweder über den Webshop von Ostwind für Fahrten im Verbundgebiet oder über die integrierte Fairtiq-Funktion für Fahrten in der ganzen Schweiz. 

Sie sprechen es an: Noch immer gibt es im Schweizer ÖV eine Vielzahl von Verbunden, Tarifen und Lösungen.
Es ist eine Frage der Zeit, bis sich das ändert. Die ganze Branche will eine Harmonisierung der Tarifwelten der einzelnen Verbunde und des direkten Verkehrs. Das ist aber anspruchsvoll.

Was meinen sie damit – ist es technisch oder politisch schwierig?
Sowohl als auch. Es gibt etwa Fragen zur Verteilung der Einnahmen, zum Umgang mit verschiedenen Tarifen oder zur Abgrenzung der verschiedenen Systeme zu lösen. Der Fernverkehr wird eigenwirtschaftlich betrieben, im Regional- und Ortsverkehr gibt es eine Subventionierung. Dadurch bringen die Unternehmen je ihre eigene Optik hinein und haben unterschiedliche Problemstellungen.

Sie sind Mitglied des Strategierat der Alliance SwissPass. in welche Richtung soll es gehen?
Wir haben ein Projekt für ein Grobkonzept zur schweizweiten Harmonisierung der Tarifwelten gestartet. Vielleicht führt das am Schluss zu einer ganz neuen Lösung, bei der nicht mehr die Zonentarifierung in den Verbunden und die Streckentarifierung im direkten Verkehr angewendet wird. Einen Zeitplan oder konkrete Entscheide gibt es allerdings noch nicht. 

Die VBSG sind eine Dienststelle der Stadt St. Gallen. Hemmt das die Innovationskraft, sich in einem politisch so regulierten Umfeld bewegen zu müssen?
Eine Dienststelle einer Stadt zu sein, hat zweifellos auch Vorteile. In Bezug auf die Flexibilität und gewisse andere Rahmenbedingungen gibt es aber auch Nachteile – deshalb wollte man die VBSG vor sieben Jahren auch aus der Stadtverwaltung ausgliedern. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben das jedoch abgelehnt.

Welche Nachteile meinen sie?
Es betrifft etwa Fragen der Finanzierung. Wir können etwa nicht mit einem anderen Transportunternehmen fusionieren. Wir sind keine eigene Rechtsperson und dürfen keinen Kredit aufnehmen. Dafür brauchen wir die Stadt. Sobald wir also eine Innovation wagen wollen, müssen wir erst die Politik davon überzeugen. Aber auch wenn die VBSG eigenes Geld ausgeben wollen, muss die Politik gefragt werden. Das hat zwar den Vorteil, dass wir das Projekt vorgängig selbst sehr gut hinterfragen müssen. Es kann uns etwa im Bereich komplexer IT-Projekte aber auch bremsen. Solche Projekte Parlamentariern zu präsentieren, die sich nicht den ganzen Tag mit dem Thema befassen, hat seine Hürden. Bisher hatten wir in St. Gallen allerdings Glück und konnten auf ein sehr fortschrittliches Stadtparlament und auch auf den Rückhalt in der Bevölkerung zählen. Der Beschaffung der neuen Trolleybusse stimmte diese etwa mit fast 90 Prozent zu.

Etwas anders sieht es aus, wenn der Kanton St. Gallen noch ins Spiel kommt. So wurde etwa das Projekt eines Trams in St. Gallen schubladisiert. War das nachvollziehbar – oder müsste das Projekt wieder aufs Tapet?
Sowohl als auch. Es war nachvollziehbar, das Projekt zu sistieren, aber man muss es wieder diskutieren. Mir würde es gefallen, wenn St. Gallen ein Tram bekäme, und ich bin überzeugt, dass es in der Politik und der Bevölkerung viel Goodwill dafür gibt. Das Tram wäre eine gute Lösung. Die Wirtschaftlichkeit ist ein Thema. Allerdings gibt es viele Projekte, die man trotz fehlender Wirtschaftlichkeit umgesetzt hat und jetzt froh darüber ist. Dann heisst es: «Zum Glück hatte man früher den Mut, das zu machen.» Im Moment, in dem der Entscheid gegen das Tram fiel, gab es klar nachvollziehbare Fakten, die für diesen Entscheid sprachen. Vielleicht war die Zeit noch nicht reif. Aber das wird wieder ein Thema werden.

Und bis dahin?
Jetzt fahren wir zuerst mit so vielen Doppelgelenk-Trolleybussen umher und verdichten den Takt so sehr, dass wir die Zwischenphase bis zum Tram bewältigen können. Am liebsten soll der Bus auf möglichst viel Eigentrasse verkehren, und zwar auch ohne Velos. Die brauchen ein eigenes Trasse. Dann kommen wir in einen sogenannten Engelskreis: Wenn wir das Angebot verbessern, nutzen es mehr Leute, und es gibt so viele Passagiere, dass sich auch ein Tram lohnt. Das Gegenteil wäre übrigens auch der Fall: Würde das Angebot abgebaut, würde es immer weniger genutzt. Das sehe ich als grosse Gefahr im Zusammenhang mit Corona.  

Wird die Stadt in Sachen ÖV vom Kanton genug gewürdigt? Die neue Stadtpräsidentin hat ja eine Debatte angestossen darüber, ob sich der Kanton seiner Hauptstadt genügend bewusst ist. Es gab auch immer wieder Kritik am S-Bahn-Ausbau innerhalb der Stadt, der nicht richtig vorwärts kommt.
Es ist gut, dass die Stadtpräsidentin dem Kanton ins Gewissen redet. Wenn der eine gute Hauptstadt will, die auch Arbeitskräfte anzieht und ein ernstzunehmendes Kantonszentrum sein will, muss diese auch gewisse Infrastruktur bieten und das kostet Geld. Wir können das nicht alleine finanzieren, und unsere anstehenden Investitionen werden mehr Abgeltungen kosten. Unser Kostendeckungsrad wird sinken, und entsprechend muss der Kanton bereit sein, die Steigerung der Abgeltungen zu decken. Natürlich ist mir klar, dass der Kanton wegen Corona auch in einer schwierigen Lage ist und das Geld nicht im Überfluss vorhanden ist, aber diese Gespräche müssen wir führen. 

Welche Investitionen stehen an?
Es sind vor allem die weitere Elektrifizierung unserer Fahrzeugflotte und das neue Betriebsgebäude der technischen Betriebe, an dem wir mit dem Depot einen Anteil haben. Die Projekte können nur finanziert werden, wenn alle am gleichen Strick ziehen. Es muss aber auch allen klar sein, dass diese Projekte dringend nötig sind. Wir müssen die Flotte etwa jetzt erneuern. Unsere Autobusse haben ihre 12 Jahre auf dem Buckel und alle über eine Million Kilometer zurückgelegt. Sie werden im Betrieb nun sehr teuer – und wenn wir wirklich konsequent unsere CO2-Emissionen abbauen wollen, können wir jetzt nicht noch einmal für 12 Jahre Dieselbusse kaufen. Deshalb müssen wir die Elektrifizierung jetzt machen.

Wie sieht der Zeitplan aus?
Bis Ende Jahr wollen wir die Linien 3, 4 und 6 elektrifizieren und danach die Linien 7 und 8. Bis 2025 sollen dann die Linien 9, 10, 11 und 12 mit Batteriebussen mit Depotladung folgen. Diese Strategie haben wir auch bereits offengelegt. 2025 sollen dann nur noch Trolleybusse und Batteriebusse fahren, die noch verbleibenden Buszüge mit Diesel werden zur Reserve. Etwa 2031 sollen auch die dann verschwinden, dann sind wir nur noch elektrisch unterwegs. 

Warum brauchen Sie ein neues Depot?
Wir platzen aus allen Nähten. 11 unserer 17 neuen Busse sind Doppelgelenk-Trolleybusse (DGTB) und damit eigentlich zu gross für unser Depot, deshalb haben wir ein Provisorium eingerichtet. Über kurz oder lang wird das nicht mehr reichen. Zudem brauchen wir eine grössere Werkstatt. Die DGTB können nicht mal gerade in die bisherige Reparaturstrasse fahren, sondern müssen abgewinkelt abgestellt werden. Wir mussten Spezialanfertigungen für Wagenheber machen, weil wir aus Platzgründen keine Vierstempel-Anlage für die Vierachser einrichten können. Die vierte Achse müssen wir deshalb mit mobilen Radgreifern heben.

Kritiker sprechen von einem «100-Millionen-Depot».
Das ist es eben gerade nicht. Die ganzen Stadtwerke werden dort auch platziert sein. Es macht Sinn, diese Synergien zu schaffen. Wenn ich die Kosten der Depots der Konkurrenz pro Fahrzeug anschaue, sind wir übrigens nicht teurer, sondern eher günstiger.  

Ab nächstem Jahr wird die St. Galler Stadtautobahn saniert. Was bedeutet das für den ÖV?
Die grosse Befürchtung ist, dass sich der Verkehr auf den Strassen staut, wenn bei der Auffahrt auf die Autobahn eine Dosierung eingeführt wird. Wenn der ÖV auch dort stecken bleibt, dann gewinnen wir keine Kunden. Darum braucht es Massnahmen für eine weitere Bevorzugung des ÖV – etwa eine separate Spur vor Lichtsignalanlagen und Fahrbahnhaltestellen statt Buchten. Dann hätten wir einen echten Vorteil gegenüber dem Auto und könnten Fahrgäste gewinnen, weil die Leute sehen, dass sie mit dem ÖV schneller sind. In Bern konnte der ÖV in einer ähnlichen Situation offenbar den Anteil während der Bauzeit um 10 Prozent steigern. Darum müssen wir solche Massnahmen prüfen. 

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