Züge, Trams und Busse verkehren in der Schweiz werktags oft nur bis Mitternacht. Der Wunsch nach einem öffentlichen Verkehr rund um die Uhr wird in der Bevölkerung immer grösser. Erste Städte reagieren nun. Doch wer soll die Nachtbusse und –züge angesichts des Personalmangels in der Branche überhaupt fahren?
von Stefan Ehrbar
5. August 2024
Wer beim letzten Bier die Zeit vergisst, muss in Genf in Zukunft je nach Wohnort kein Taxi mehr bezahlen für die Fahrt nach Hause. Ab dem 15. Dezember fahren die S-Bahnen zwischen Genf und La Plaine sowie zwischen Genf und Chêne-Bourg nämlich ohne Unterbruch. Bis etwa halb ein Uhr morgens sind die Züge im üblichen Takt unterwegs, danach jede Stunde.
Während in den meisten Regionen der Schweiz ein Nachtnetz in den Wochenendnächten angeboten wird, ist Genf der einzige Kanton, in dem der öffentliche Verkehr ab dann auch werktags rund um die Uhr verkehrt. Dabei dürfte es nicht bleiben. Das Bedürfnis nach einem 24/7-ÖV wächst.
Mit der Thematik beschäftigen sich etwa die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ). Mobimag weiss: Ein Vertreter der städtischen Betriebe sagte kürzlich in einer Sitzung, das Bedürfnis nach zusätzlichen Angeboten vor und nach den regulären Betriebszeiten und grundsätzlich in den Werktagsnächten steige. Das zeigten nicht nur Rückmeldungen aus der Bevölkerung, sondern auch die Zahl der Begehren, die zu diesem Thema bei den VBZ eingingen.
Sowohl die VBZ als auch der kantonale Verkehrsverbund (ZVV), der für das ÖV-Angebot im ganzen Kanton verantwortlich ist, arbeiten an Studien zum Thema. Mittlerweile liegen erste Zwischenergebnisse vor. Sie fallen für Nachtschwärmer positiv aus. Sie zeigen laut den VBZ, dass das Potenzial für den nächtlichen ÖV an Werktagen vorhanden ist.
Nun wird geprüft, wie ein Nachtnetz an Werktagen ausgestaltet sein könnte. Weil aber die Studien noch nicht abgeschlossen sind, dürfte ein solches frühestens Ende 2027 umgesetzt werden. Ein definitiver Entschluss ist noch nicht gefallen.
Offen ist auch die Frage, ob ein Nachtnetz vom ZVV umgesetzt und finanziert würde. Eine ZVV-Sprecherin sagt, Ziel der Arbeiten sei es, aktuelle Erkenntnisse zu erlangen. Ob, wie und wann diese in ein allfälliges zusätzliches Angebot münden, werde nach deren Abschluss entschieden. Wenn sich der ZVV gegen ein Werktags-Nachtnetz entscheidet, könnten die VBZ es auf ihrem Gebiet auf eigene Faust umsetzen. Die Stadt müsste es dann aber selbst finanzieren.
Zudem steht ein Problem den Plänen gegenüber: der Personalmangel. Menschen, die Bus oder Tram fahren wollen, sind gesucht. Die VBZ müssen noch bis Ende Jahr einen reduzierten Fahrplan anbieten, weil sie zu wenig Angestellte haben. Damit sind sie nicht alleine. Auch die Rhätische Bahn hat ihr Angebot aus diesem Grund reduziert. Zudem gehen in den nächsten Jahren sehr viele Busfahrerinnen und –fahrer in Rente.
Personal für ein werktägliches Nachtnetz zu rekrutieren, wäre angesichts dieser Situation eine Herausforderung – auch wenn es Mitarbeitende gibt, welche die Arbeit in der Nacht schätzen, etwa wegen der ruhigeren Strassenverhältnisse oder den Zulagen für Nachtarbeit. Das Beispiel Genf zeigt, dass dieses Problem lösbar ist.
Zunächst wird in Zürich das Angebot mit weiteren Verbindungen frühmorgens und spätabends ausgebaut. Ab Ende 2025 sollen etwa weitere Tramlinien den Hauptbahnhof vor fünf Uhr erreichen, auf anderen werden die Betriebszeiten so ausgebaut, dass die letzten Verbindungen in die Aussenquartiere gegen 1 Uhr morgens angeboten werden.
Ähnliche Entwicklungen gibt es nicht nur bei Tram und Bus, sondern auch auf dem Netz der Zürcher S-Bahn. Der bisher als Test betriebene frühe Zug, der den Hauptbahnhof um 4.33 Uhr Richtung Flughafen verlässt, war in den letzten drei Jahren so gut ausgelastet, dass er per Ende Jahr definitiv eingeführt wird. Bereits per Ende 2021 wurde auf dem Netz der Zürcher S-Bahn auf verschiedenen Linien der Betriebsbeginn morgens vorverlegt.
In anderen Städten und Regionen ist ein Nachtnetz werktags kein Thema. Das Bedürfnis nach sehr späten und sehr frühen Verbindungen ist aber auch dort spürbar. In Basel wurde deshalb vor gut einem Jahr der Takt auf verschiedenen Tramverbindungen abends verdichtet. Letzte Verbindungen werden auf vielen Linien bis nach 1 Uhr angeboten und erreichen den Bahnhof Basel SBB bereits jetzt morgens vor fünf Uhr.
Ein werktägliches Nachtnetz wurde im vergangenen Winter erstmals auch in der Region Lenzerheide angeboten. Postauto-Kleinbusse fuhren bis 4 Uhr morgens in die Gemeinden rund um die Lenzerheide und Tiefencastel nach einem festen Fahrplan. Fahrgäste mussten sich allerdings via App anmelden, um Leerfahrten zu vermeiden. Das war auch kurzfristig möglich. Akzeptiert wurden normale ÖV-Tickets.
Das Fazit sei «sehr positiv», sagt Thierry Müller, Leiter öffentlicher Verkehr beim Kanton Graubünden. Der 24/7-Betrieb soll auch in der kommenden Wintersaison wieder angeboten werden – und komplett in die SBB-Welt integriert werden. Im Unterengadin teste der Kanton derzeit, wie die Reservierung der Rufbusse in die SBB-App integriert werden könnte.
Eine Ausdehnung des 24/7-Betriebs über die Wintersaison hinaus sei derzeit kein Thema. Sein Amt sei aber im Gespräch mit weiteren Regionen für ähnliche Angebote, sagt Müller. Im Gebiet Lenzerheide wird das Angebot etwa von Après-Ski-Enthusiasten genutzt, aber auch vom Personal der Bars und Restaurants.
Das Angebot in der Nacht ist für Menschen, die bis spät arbeiten oder frühmorgens damit beginnen, wichtig – und doppelt wirksam. Schliesslich legen sie dank dem Angebot oft die Hin- oder Heimfahrt mit dem ÖV zurück, die sie zuvor im Auto unternahmen. Damit argumentierte auch der Kanton Genf, als er den Auftrag für die 24/7-S-Bahn gab. Er wolle die Mobilität so organisieren, dass sie «den Bedürfnissen der Bevölkerung und der Wirtschaft entspricht» – und dass der ÖV gegenüber dem Auto attraktiver werde.
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