Der Zürcher ÖV positioniert sich zu Tempo 30: Warnung vor Angebotsabbau und Widerstand gegen Boller und Rechtsvortritt

Leidet die Attraktivität des ÖV unter Tempo 30? Bild: Tobias Kleeb / Unsplash

Die grössten Zürcher ÖV-Unternehmen und der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) haben ein Papier zu Tempo 30 verfasst. Sie warnen vor einer «Verminderung der Qualität des öffentlichen Verkehrs» und Angebotsabbau – und stellen eine Liste mit Massnahmen auf, die sie verhindern wollen.

von Stefan Ehrbar
18. August 2022

Welchen Einfluss hat Tempo 30 auf den öffentlichen Verkehr? Die Meinungen dazu gehen weit auseinander. Der Zürcher Stadtrat Michael Baumer (FDP) prognostizierte Mehrbedarf bei Depots und Abstellanlagen und fehlende finanzielle Mittel für Angebotsausbauten. Während Messungen der Stadt Zürich teils deutliche Fahrzeitverlängerungen für den ÖV nachwiesen, verneinte die Stadt Bern genau diesen Effekt. Andererseits verweisen Befürworter darauf, dass Tempo 30 in Brüssel zu einer Halbierung der Verkehrstoten geführt habe.

Das Argument, wonach die Signalisierung von Tempo 30 den öffentlichen Verkehr verlangsame und so zu einem Mehrbedarf an Personal und Fahrzeugen und damit zu Mehrkosten (oder einem Angebotsabbau) führe, wird mittlerweile auch von bürgerlichen Parteien vorgetragen. Die Zürcher FDP und SVP lancierten gar eine «ÖV-Initiative», die mit diesem Argument Tempo 30 auf Hauptstrassen verbieten soll, wie watson.ch berichtet.

Doch was denken die betroffenen Betriebe darüber? Der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) und seine marktverantwortlichen Unternehmen (Postauto, Stadtbus Winterthur, Sihltal Zürich Uetliberg Bahn, Verkehrsbetriebe Glattal, Verkehrsbetriebe Zürich und Verkehrsbetriebe Zürichsee-Oberland) haben ein Grundsatzpapier verfasst. Sie stellen sich zwar nicht grundsätzlich gegen Tempo 30, aber stellen weitreichende Forderungen auf.

«Immer mehr Gemeinwesen im Kanton Zürich prüfen oder planen bereits die Einführung von Tempo 30 auf verschiedenen Strassenabschnitten. Auslöser sind in der Regel Überlegungen zum verstärkten Schutz der Bevölkerung vor Lärm. Ebenfalls spielen bisweilen Sicherheitsüberlegungen eine Rolle», heisst es im Text. «Die Senkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf Strassen betrifft auch den strassengebundenen öffentlichen Verkehr und ist geeignet, dessen Qualität zu vermindern. Gleichzeitig soll der öffentliche Verkehr aber gemäss den verkehrs- und umweltpolitischen Zielen der Kantonsregierung und des Parlaments den grössten Teil des zusätzlich anfallenden Verkehrs übernehmen und seinen Anteil am Modalsplit erhöhen. Dies führt zu klassischen Zielkonflikten, die eine sorgfältige Abwägung im Einzelfall erfordern.»

Die Reisezeit sei eines der wichtigsten Kriterien bei der Verkehrsmittelwahl, heisst es im Papier. Diese verlängere sich durch Tempo 30 je nach Fahrtdauer um wenige Sekunden bis Minuten. «Dadurch verschlechtert sich die Wettbewerbsposition des ÖV gegenüber dem motorisierten Individualverkehr (MIV) dort, wo der MIV auf andere Strecken ausweichen kann. Im dichten städtischen Raum verringert sich der Reisezeitvorteil des ÖV gegenüber Velo und eTrottinett.»

Je nach Fahrplan führe die verlängerte Reisezeit zudem dazu, dass bestehende Transportketten – etwa der Anschluss an die S-Bahn – oder andere Fahrplanelemente wie Reissverschlusssysteme nicht mehr gewährleistet werden. 

Als Durchschnittswert würden Verlängerungen von 2 Sekunden pro 100 Meter Tempo 30 angenommen, was aber zu kurz greife, da die Verzögerung im Einzelfall stark variieren könne und für jeden einzelnen Fall genau zu prüfen sei. Je nach Fahrprofil müsse deshalb ein zusätzliches Fahrzeug eingesetzt werden.  

Zudem würden in Folge von Tempo 30 oft geringere Fahrbahnbreiten projektiert. Der Begegnungsfall Bus-Bus oder Bus-Auto könne so nicht mehr normenkonform abgewickelt werden, was zu weiteren Fahrzeitverlusten führe.

Die Verkehrsunternehmen und der ZVV stellen angesichts dieser negativen Folgen folgende Lösungsansätze und Kompensationsmassnahmen vor:

  • Kompensation der Fahrzeitverluste durch Busbevorzugung vor allem an Lichtsignalanlagen sowie Busspuren und Fahrplanhaltestellen
  • weniger lange Tempo-30-Abschnitte
  • zeitlich begrenzte Tempo-30-Abschnitte
  • der rechtzeitige Einbezug des öffentlichen Verkehrs in die Überprüfungen und Planungen
  • betrieblich mögliche Anpassungen: Anpassungen an den Wendezeiten, Übergangszeiten an Bahnhöfen oder Pufferzeiten sind zu überprüfen, Anpassungen dürfen aber nicht zu Lasten der Anschlusssicherheit gehen
  • Anpassungen am Fahrplan: Dazu gehören Anpassungen am Linienverlauf, aber auch die Aufhebung von Haltestellen ist laut Papier zu prüfen
  • Fahrspuren sollten mindestens 3,25 Meter breit sein
  • Bei starkem Veloverkehrsaufkommen sei ein Velostreifen vorzusehen, der gefahrlos und ohne Nutzung der Gegenfahrbahn überholbar sein soll.

Zudem führen die Verkehrsunternehmen Gestaltungselemente auf, die aus ihrer Sicht für den ÖV zu grosse Nachteile haben und «grundsätzlich nicht im Sinne des Auftrags der Priorisierung des öffentlichne Verkehrs sind»:

  • Starke Vertikalversätze – diese erhöhen die Sturzgefahr im Fahrzeug
  • Physische Engpässe, also zueinander versetzte bauliche Elemente wie versetzte Parkfelder, Blumenrabatte oder Boller. 
  • Rechtsvortritt: Dieser bedinge eine langsamere Fahrweise und verursache ein häufiges und übermässiges Bremsen innerhalb des Tempo-30-Abschnitts oder sogar ein Anhalten, um den Rechtsvortritt zu gewähren. Das wirke sich negativ auf Fahrgeschwindigkeit und Komfort aus.
  • Enge Radien führten zu einer zu starken Verminderung der Geschwindigkeit, auch im Vergleich zum MIV.

Im Papier wird zudem die Forderung aufgestellt, dass die Verkehrsunternehmen rechtzeitig in die Erarbeitung des Gutachtens einzubeziehen seien und nicht erst zur Stellungnahme. Die Berechnung der Auswirkungen auf den Fahrplan sei durch die Verkehrsunternehmen selbst vorzunehmen. «Eine Herleitung durch ein Ingenieurbüro mit der pauschalen Annahme einer Verlustzeit von theoretischen 2sec/100m genügt den Anforderungen an eine sorgfältige Interessensabwägung im Sinne des Gesetzes nicht. Es ist zwingend das Einzelprojekt anzuschauen», heisst es im Papier.

Mit dem Gutachten reihen sich die Verkehrsunternehmen tendenziell in die Reihe der Tempo-30-Kritiker ein. Welche Rolle es im politischen Diskurs spielen wird, bleibt abzuwarten.

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