Der Schweizer ÖV kann Corona nicht: Diese Fehler machten SBB und Co. 🆓

Wann füllen sich die Züge wieder? Bild: Mobimag

Regeln werden nicht umgesetzt, der Homeoffice-Boom verschlafen und bei den Daten hinkt die Branche jahrelang hinterher: Die Coronakrise legt Schwächen der Schweizer ÖV-Branche offen. Was lässt sich daraus für die Zukunft lernen? Eine persönlich gefärbte Analyse.

von Stefan Ehrbar
24. Mai 2021

Diese Zahl schmerzt die SBB: 51,45 Prozent betrug die Auslastung ihrer Fernverkehrszüge zuletzt im Vergleich zu 2019. Wann kommen die Passagiere zurück? Kommen sie überhaupt wieder? Was hindert sie daran? Auf diese Fragen weiss niemand eine Antwort. In den letzten Monaten hat sich die hiesige ÖV-Branche aber nicht nur geholfen. Sie hat Fehler gemacht, aus denen sie lernen muss.


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Was lief schief? Einige Punkte stechen besonders ins Auge.

  • Hygienemassnahmen: Die Maskenpflicht im ÖV kam zu spät – obwohl ohne die Pflicht fast niemand der Passagiere eine Schutzmaske trug, wie der damalige ZVV-Direktor im Mai 2020 in einem Interview freimütig einräumte. Eine Pflicht wollte er trotzdem nicht – so wenig wie die SBB oder Postauto. Auf den 6. Juli 2020 wurde diese dann per Bundesratsbeschluss eingeführt, Monate später als im umliegenden Ausland. Glaubwürdig wirkte die Pflicht so nicht – und es stellt sich die Frage, warum die Schweizer ÖV-Manager glaubten, es besser zu wissen als alle rund um sie herum. Oder fürchteten sie sich vor einem unpopulären Entscheid?
  • Durchsetzung von Regeln: Wenn Regeln gelten, dann für alle. Im ÖV ist das wichtig für jene, die sich vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus fürchten. Dazu gehören auch ältere Menschen oder solche mit einer Vorerkrankung. Die ÖV-Branche machte aber schnell klar: Eine Durchsetzung der Maskenpflicht sieht sie nicht als ihre Aufgabe an. «Unser Personal spielt nicht die Maskenpolizei», sagte der Ex-Fernverkehrschef der SBB. Die Abgabe oder der Verkauf von Schutzmasken an den SBB-Bahnhöfen sei schon gar kein Thema. Dass Kundenbegleiter keine Polizeibefugnisse haben: geschenkt. Doch mit solchen Aussagen sendete die Branche vor allem das Signal aus, dass Regelbrecher nichts zu befürchten haben. Tatsächlich fahren bekannte Anführer der Skeptiker-Szene seit Monaten völlig unbehelligt ohne Maske im Schweizer ÖV umher und streamen das Ganze live. Sogar SBB-Personal beklagt sich mittlerweile darüber. «Für meinen bisherigen Arbeitstag finde ich keine Worte», schreibt eine Kundenbegleiterin am Samstag auf Twitter. Eine andere schreibt auf Facebook, mindestens ein Viertel von 600 Menschen im IC1 trage die Maske nicht. «Ist es zu viel verlangt, die Maskenpflicht, die seit einem Jahr gilt, einzuhalten?», schreibt sie. Die Alternative wäre klar gewesen: Wer sich nicht an die Pflicht hält, wird aus den Zügen, Bussen und Trams geworfen – wenn nötig, auch mit der Polizei. Eine solche Ansage hätte von oben kommen müssen. Doch die SBB, die jahrelang für ihr eigenes Polizeikorps gekämpft hatte, das unbedingt auch noch bewaffnet werden musste, stellte sich auf den Standpunkt, dass ihr die Hände gebunden seien, während die Deutsche Bahn Querulanten monatelange Beförderungsverbote aussprach. Es braucht sich nun niemand wundern, wenn Menschen mit Respekt vor dem Virus den ÖV zumindest so lange meiden, bis sie vollständig geimpft sind. Kontrollen der Maskenpflicht sind so etwas wie der schwarze Schwan. Es gibt sie wohl schon, aber gesehen hat sie noch niemand. Das ist kein exklusives Problem der SBB, sondern eines aller Verkehrsbetriebe. Es erstaunt, wenn man sich vor Augen führt, mit welchem Aufgebot etwa in Zürich vor der Krise Grosskontrollen gegen Schwarzfahrer durchgeführt wurden. Diese erinnerten jeweils eher an die Fahndung nach flüchtigen Schwerverbrechern.
  • Kommunikation: Seit Oktober 2020 gilt die Maskenpflicht auch an Bahnhöfen. Es ist keine besonders gewagte Wette: An einem durchschnittlichen Bahnhof wüssten das keine 50 Prozent der Pendler. Während fast jedes Geschäft mit einem Aushang auf die Pflicht aufmerksam macht, hüllt sich die ÖV-Branche in Schweigen. Ist es Desinteresse oder fehlende Professionalität? Beides wäre kein Ruhmesblatt.
  • Keine Flexibilität: Mit dem fortschreitenden Impferfolg rückt auch ein Ende der Pandemie in die Nähe. Verschiedene Studien und Umfragen der letzten Monate zeigen, dass sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer mit deutlich mehr Homeoffice rechnen – einer Studie von Wüest Partner zufolge steigt der Anteil an den zuhause geleisteten Arbeitsstunden etwa von 8 bis 12 Prozent auf bis zu 30 Prozent. Der Ruf nach darauf abgestimmten Angeboten wurde früh laut. Dazu gehört etwa ein Homeoffice-GA, das an frei zu wählenden Tagen gültig wäre. Was tut aber die Branche? Nichts. Der SBB-Chef will während der Krise gar nicht erst Entscheidungen zum künftigen Tarifangebot treffen, der Rest hüllt sich ganz in Schweigen. Es regiert das Prinzip Hoffnung: Es werden dann schon wieder alle Pendler zurückkommen. Die Branche mit mit ihrer Überorganisation Alliance Swiss Pass macht einen handlungsunfähigen Eindruck. Nur einmal ein neues Produkt in wenigen Monaten auf die Beine stellen und etwas Gewagteres ausprobieren, auf die Gefahr hin, dass es funktionieren könnte? Das scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Wenn die Pendler nach den Sommerferien wieder in ihr Büro zurückkehren, dann hat die ÖV-Branche ihnen tariflich nichts Neues zu bieten. Eine verpasste Chance. Doch auch während der Krise hätten sich Möglichkeiten eröffnet: Warum nicht Pendlern die Möglichkeit geben, für wenig Geld ein ganzes Abteil zu reservieren, wenn die Züge sowieso halbleer in der Gegend rumfahren und so wenigstens noch etwas Erlöse generieren? Das mag nicht die allerbeste Idee sein, aber immerhin ist es eine. Das Bahnland Schweiz, das sich selbst so gerne feiert, hätte in den letzten Monaten mindestens eine Idee haben müssen, die auch im Ausland kopiert worden wäre. Doch da kam nichts.
  • Zu wenig Kundenorientierung: Wer zuhause bleibt, braucht kein GA und kein Zonenabo. Die ÖV-Branche reagierte mit maximaler Unbeweglichkeit auf diese Erkenntnis der Kunden. Das GA lässt sich zwar mittlerweile online hinterlegen, aber weiterhin nur für einen Monat. An dieser Frist gibt es nichts zu rütteln – auch wenn das für viele bedeutet, ihr GA kündigen zu müssen. Ob diese Menschen so schnell zum teuren Abo-für-Alles zurückkommen, wenn sie erst einmal gemerkt haben, dass sie mit Fairtiq und Co. viel günstiger unterwegs sind, darf bezweifelt werden. Das sind Einnahmen, auf die schon fast fahrlässig verzichtet wird. Während die gebeutelte Airline-Industrie oder die Hotellerie in nullkommanichts Buchungsbedingungen aus dem Hut zauberten, die eine kostenlose Umbuchung noch kurz vor Abflug oder Einchecken ermöglichen, hat sich in der ÖV-Branche in Sachen Kundenorientierung nichts getan. Der Verdacht drängt sich auf: Würden die Verluste nicht sowieso durch die öffentliche Hand gedeckt, müssten die Betriebe in Sachen Kundenfreundlichkeit einen Zacken zulegen.
  • Fehlende Transparenz: Das Bundesamt für Strassen stellt Live-Daten von Frequenzzählungen auf den Autobahnen zur Verfügung. Der Flughafen Zürich gibt jeden Tag bekannt, wie viele Bewegungen auf welcher Piste gezählt wurden. Die Städte Zürich und Basel veröffentlichen minutengenaue Daten zum Fussgänger- und Veloverkehr. Und die ÖV-Branche? Erst seit Februar veröffentlicht die SBB wenigstens jede Woche neue Auslastungszahlen. Die VBZ stellen sehr detaillierte Daten für ihre Haltestelle Hardbrücke zur Verfügung und die BVB Passagierzahlen pro Woche. Das ist aber auch schon alles, und das ist viel zu wenig. Die Branche muss Transparenz schaffen: An welchen Bahnhöfen sind die Einbrüche wie hoch? Auf welchen Strecken sind wie viele Passagiere unterwegs? Ein Geschäft, das zu Recht mit Milliarden Franken an Steuergeldern subventioniert wird, ist der Öffentlichkeit mehr Transparenz schuldig.

Im Nachhinein zu kritisieren ist immer einfach und alles besser zu wissen sowieso. Viele Dinge sind zudem sehr gut gelaufen: Die ÖV-Betriebe konnten ihre Angebot jederzeit erbringen, ihre Schutzkonzepte für das Personal funktionierten und systemrelevante Personen konnten sich jederzeit auf Bahn und Bus verlassen.

Doch es wäre ein gefährlicher und hierzulande nur zu vertrauter Reflex, sich auch auf die Schultern zu klopfen, wenn gewisse Dinge allerhöchstens mittelmässig gut gelaufen sind. Die Pandemie zeigt, dass der ÖV ähnlich funktioniert wie das ganze Land: Sehr föderalistisch, eher behäbig, aber enorm zuverlässig. Es gibt kein besseres System, wenn es um die Planung eines hochkomplexen Angebots auch mehrere Jahre in die Zukunft geht. In einer Situation, in der schnelles, flexibles Handeln gefragt ist, kommt es aber an seine Grenzen.

Die nächste Pandemie kommt mit etwas Glück nicht so schnell. Trotzdem sollte die Branche aus Corona etwas mitnehmen. Es muss nicht gleich alles auf den Kopf gekrempelt werden. Die SBB wird nie zum hippen Start-Up, die Alliance SwissPass nicht zur militärischen Kommandozentrale, in der in Sekundenschnelle Entscheidungen getroffen werden. Aber es muss künftig Mechanismen geben, die ein schnelleres und flexibleres Reagieren auf aktuelle Trends ermöglichen – und Entscheider in der Branche, die gewillt sind, auch vom Ausland zu lernen und Entscheidungen zu treffen auf die Gefahr hin, sich unbeliebt zu machen. Das hilft dann auch in Situationen, in denen die Auslastung bei über 51,45 Prozent liegt.



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