Der ÖV-Anteil soll verdoppelt werden, aber warum spricht niemand über den Ticketpreis?

Wie können mehr Leute für den ÖV begeistert werden? Bild: Tomek Baginski / Unsplash

Die ÖV-Branche will endlich wieder ihren Anteil am Modalsplit steigern, der seit Jahren stagniert. Sie schlägt unter anderem neue Direktzüge in Freizeitregionen, einen weiteren Infrastrukturausbau und Probe-GAs vor. Nur die Ticketpreise bleiben unerwähnt. Das ist ein Fehler.

Ein Kommentar von Stefan Ehrbar
24. August 2021

Ambitionierte Ziele brauchen ambitionierte Massnahmen. Der Anteil von Bahn, Bus und Tram soll im Rahmen von Bahn 2050 verdoppelt werden. So will es nicht nur der Verband öffentlicher Verkehr (VöV), sondern auch der Bund. Die Beamten sprechen von einem «ambitionierten Ziel». Tatsächlich ist der Weg weit: Seit Jahren stagniert der ÖV-Anteil am Modal Split.

Wie könnte sich das ändern? Der VöV ist mit einer Studie vorgeprescht, die Wege zum Ziel aufzeigen soll. Mit 38 Massnahmen könne der Anteil des ÖV an den zurückgelegten Distanzen von heute 28 auf über 40 Prozent steigen, schreiben die Studienautoren (Mobimag berichtete).

Zu den Massnahmen gehören etwa eine Erhöhung der Taktfrequenz und eine Ausdehnung der Betriebszeiten insbesondere in Agglomerationen, eine bessere Priorisierung des ÖV auf den Strassen, neue flexible Angebote für den Freizeitverkehr wie Direktzüge in die Berge am Wochenende oder die Förderung des autofreien Wohnens und die Reduktion von Parkplätzen.

Erstaunlicherweise wird das vielleicht wichtigste Argument im Kampf um neue Kunden nur am Rand erwähnt: Der Preis. Zwar stellt der VöV die Idee von Probe-GAs etwa für 18-Jährige oder 50-Jährige, die sich an Wendepunkten ihres Lebens befinden, in den Raum. Darüber hinaus aber findet sich kein Wort zu den künftigen Kosten der Billette. Auch der Bund schweigt sich zu diesem Thema aus und in der Politik macht sich mit wenigen, lokal beschränkten Ausnahmen – die SP des Kanton Zürich fordert etwa günstigere Jahresabos – für tiefere Preise im ÖV stark.

Das ist einerseits verständlich. Tiefe Preise fördern die Mobilität, was von linker Seite nicht erwünscht ist. Sie verringern zudem zumindest kurzfristig den sowieso schon tiefen Kostendeckungsgrad des ÖV, was rechte Politiker um jeden Preis verhindern wollen.

Trotzdem muss über das Thema gesprochen werden. Denn tiefe Preise sind eine der wirksamsten Methoden, um Menschen in den ÖV zu bringen. Die Aviatik hat mit tiefen Preisen in den Jahren vor der Coronakrise einen regelrechten Boom entfacht. Niemand fährt heute mehr mit dem Auto nach Berlin, wenn der Flug 30 Franken kostet. Die Wichtigkeit der Preise ist der Politik sowieso bewusst: «Marktbeobachtungen zeigen, dass
der Spielraum für Tariferhöhungen und die Kundenakzeptanz kleiner geworden sind, schrieb etwa der Zürcher Regierungsrat vor kurzem. Mit anderen Worten: Die preisliche Obergrenze ist längst erreicht.

Wenn der Anteil des ÖV wirklich verdoppelt werden soll, wäre es dumm, tiefere Preise nicht in Betracht zu ziehen. Dabei könnten Preiserhöhungen durchaus so gestaltet werden, dass sich damit auch politische Ziele erreichen lassen.

  • Preise könnten in Nebenverkehrszeiten deutlich gesenkt werden. Das würde den Verkehr verlagern und die Auslastung wäre gleichmässiger. Damit würde kein weiterer Ausbaubedarf provoziert, denn in den Nebenverkehrszeiten fährt der ÖV heute fast leer umher. Hinzu kommt, dass die Preise im öffentlichen Verkehr zu Stosszeiten sowieso unelastisch sind: Eine Veränderung der Preise geht dann kaum mit einer Veränderung der Nachfrage einher.
  • Preise könnten spezifisch für Arbeitspendler gesenkt werden: Wer eine Bestätigung seines Arbeitgebers einreicht, erhält ein günstigeres Abo für die Fahrt vom Wohn- zum Arbeitsort. Das könnte auch an Kilometerbegrenzungen gekoppelt werden, um zu lange Pendeldistanzen zu verhindern.
  • Die Preise könnten am Wochenende oder abends generell gesenkt werden. So würde der heute sehr tiefe Anteil des ÖV am Freizeitverkehr gesteigert – zu Zeiten, in denen die Auslastung des öffentlichen Verkehr sehr tief ist.

Das würde viel Geld kosten, keine Frage. Würden die Preise in den Nebenverkehrszeiten um 20 Prozent gesenkt, gingen etwa 590 Millionen Franken jedes Jahr verloren – unter der Annahme, dass etwa die Hälfte des Verkehrs in Nebenzeiten abgewickelt wird und gemäss den 5,9 Milliarden Kundenerträgen, die 2019 verzeichnet wurden. Gleichzeitig würde die Nachfrage gesteigert. Ein Papier des VCS geht von einer Preiselastizität des öffentlichen Verkehr von 0,25 aus. Das heisst: Eine Preissenkung um 20 Prozent hätte eine Nachfragesteigerung von fünf Prozent zur Folge. Das wiederum entspricht 150 Millionen Franken Mehreinnahmen. Unter dem Strich würden in dieser Milchbüchleinrechnung ohne wissenschaftlichen Anspruch knapp 450 Millionen Franken Mindereinnahmen entstehen. Allerdings scheinen diese Annahmen eher konservativ: Während die Nachfrage nach ÖV in Stosszeiten wohl fast unabhängig vom Preis ist, dürfte dies in Nebenverkehrszeiten, wo der Freizeit-Anteil höher ist, deutlich anders aussehen.

Das tönt nach sehr viel Geld. Allerdings: Die Summe entspricht gut einem Drittel dessen, was die Schweiz zwischen 2025 und 2035 jedes Jahr alleine in den Ausbau der Bahninfrastruktur steckt.

Die Frage muss deshalb erlaubt sein: Wäre etwas weniger Ausbau bei tieferen Preisen auch eine Option? Oder werden die vorgeschlagenen Mittel der Branche ausreichen, um die Ziele zu erfüllen?

Um diese Frage seriös beantworten zu können, fehlen genaue Daten. So ist etwa die Preiselastizität des öffentlichen Verkehr zum aktuellen Zeitpunkt nicht erforscht. Doch dass der Branche das Thema kein Wort wert ist, selbst wenn sie 38 Massnahmen vorschlägt, mutet seltsam an. Das Thema gehört in die politische Diskussion.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diesen Artikel kommentieren