Fabienne Hoelzel plant Städte ohne Autos: «Wäre man mutig, würde man die zweite Gotthard-Röhre lassen»

Fabienne Hoelzel (44). Bild: Marco Sieber

Fabienne Hoelzel ist Professorin für Entwerfen und Städtebau an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Im Interview erzählt die an der ETH Zürich ausgebildete Forscherin, warum sie Elektromobilität nur für eine Übergangstechnologie hält, wieso Städte wegen Corona belebt werden und was ihre Heimatstadt Aarau besonders gut macht.

Interview: Stefan Ehrbar
24. März 2021

Frau Hoelzel, in einem Beitrag für den «Schweizer Monat» haben Sie geschrieben, was Zürich von Lagos lernen könnte. Dort gebe es Zufriedenheit auf der Nachbarschafts- und Quartierebene, weil sich die Menschen durch die Abwesenheit der öffentlichen Hand selbst organisierten. In der Coronakrise war Nachbarschaftshilfe auch hierzulande ein Thema. Warum sind so viele Initiativen wieder versandet?
Ich vermute, dass dies an unseren gut funktionierenden Rahmenbedingungen liegt. Wie man sich auch persönlich zur Rolle des Staates stellt – im Verhältnis zur Zivilgesellschaft und zur freien Wirtschaft –, der Staat kommt seiner Aufgabe zur Bereitstellung von hochqualitativen öffentlichen Gütern gut nach. Darum sind solche Initiativen in der Schweiz intrinsisch oder vielleicht ideologisch bedingt, nicht aber lebensnotwendig, wie das etwa in Lagos der Fall ist.

Auch in der Schweiz haben in der Zeit des Homeoffice viele ihr Quartier neu entdeckt. Verlagert sich unser Leben zunehmend in die nähere Umgebung?
Im Moment ist das definitiv so. Ich gehe davon aus, dass ein Teil der Covid-19-bedingten Veränderungen in Beruf und Alltag bleiben werden. Ich denke, dass das Home-Office zu 20- bis 60-prozentigen Anteilen bleiben wird, ebenso, dass internationale Kongresse vermehrt in hybriden Formaten stattfinden werden. Ich habe keine Kristallkugel, aber ich gehe weiterhin davon aus, dass sich die Fliegerei massiv verteuern wird, was wiederum den gesellschaftlichen Umweltschutzanliegen zugutekommen wird. Wenn dann in der Folge allerdings alle in den Bergen abseits der Pfade wandern, biken und Skifahren, werden die Umweltschäden einfach verlagert, um nur ein Beispiel zu nennen.

Was bedeutet das für die Innenstädte? Werden Geschäfte und Büros aus ihnen verschwinden?
Davon gehe ich aus. Das Ladensterben wird weitergehen und die Unternehmen werden ihre Büroflächen reduzieren und zu flexiblen Arbeitsplätzen in Kombination mit Home-Office übergehen. Das schafft Wohnflächen in den Innenstädten, die zusammen mit der Mobilitätswende und der Verdrängung des Autos zu einer Belebung unserer Städte führen werden. Aber auch hier müssen aus raumplanerischer Sicht die «Verdrängungsprozesse» und deren räumliche Auswirkungen im Auge behalten werden. Dazu gehören Lagerhallen und Infrastrukturen für die Logistik.

In ihrem Aufsatz im «Schweizer Monat» haben Sie auch die Schweizer Stadtplanung kritisiert. Die langwierigen Planungsprozesse und ein Unwille der Bevölkerung verhinderten, Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu finden. Ist dieser Befund immer noch aktuell? 
Wenn es uns mit unseren selbst gesetzten Zielen punkto Nachhaltigkeit ernst ist, werden wir unseren Lebensstil ändern müssen. Die Technologie alleine wird das nicht leisten können. Auf der anderen Seite verhindern zu viele Gesetze und Regulierungen echte Innovationen. Hier könnte man in gewissen Bereichen Freiräume schaffen.

Der öffentliche Verkehr spielt eine grosse Rolle bei der Zersiedelung. So hat beispielsweise die S-Bahn zu einem enormen Bevölkerungswachstum im Zürcher Oberland geführt. War das ein Fehler?
Generell gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Ausbau von hochqualitativen Infrastrukturen und der Nutzung des Raumes durch den Menschen, sei es durch Besiedelung, sei es durch Tourismus. Hier wird es in Zukunft darum gehen, Infrastruktur- und Siedlungsplanungen zusammen zu denken, was durchaus in den Köpfen von Fachleuten geschieht, in der politischen Realität aber oft schwierig umzusetzen ist.

Das Schweizer Mittelland wird häufig als «Siedlungsbrei» kritisiert, viele Gemeinden sind gesichtslose Schlaforte geworden. Wie könnte sich das wieder ändern? Welche Anreize bräuchte es?
Zunächst sollten weitere Entwicklungen in dieser «Planungsphilosophie» verhindert werden, das ist das effizienteste. Im Prinzip wäre dies auch der politische Konsens. Ein Rückbau ist naturgemäss schwierig, könnte aber vorangetrieben werden, wenn sich die Lebensstile einer jüngeren Generation unter den zuvor angesprochenen Tendenzen ändern.

In der Schweiz stehen weitere grosse Ausbauten im ÖV an. Sie verkürzen die Fahrzeiten zwischen den Zentren und ermöglichen mehr Kapazitäten. Ist das nicht genau das falsche Signal? Werden so Menschen zu Pendlern?
Falsch ist das nicht, aber wenn es dazu führt, dass Menschen immer weitere Distanzen zurücklegen, gibt es falsche Anreize.

Der Schweizer ÖV erschliesst das ganze Land mit einem dichten Takt. Ist das aus Sicht der Raumplanung ein Fehler?
An sich ist das gut, wenn es aber zu immer weitern Berufs- und Freizeitpendeldistanzen führt, werden ganz offensichtlich die falschen Anreize gesetzt.

Ausgebaut werden auch Strassen – geplant ist etwa eine durchgehend dreispurige A1, bald wird auch die zweite Gotthardröhre gebaut. Sollte man das lassen?
Wenn man mutig wäre, würde man es lassen und komplett auf andere Verkehrsträger setzen.

In einem Interview mit dem SRF haben Sie gesagt, Sie planten komplett ohne Autos. Es spiele überhaupt keine Rolle mehr. Wann rechnen Sie damit, dass diese Vision in den ersten europäischen Städten Wirklichkeit wird?
Das könnte sehr schnell Realität werden, es handelt sich primär um eine politische Diskussion. Die Schweiz könnte und müsste aus meiner Sicht hier eine Vorreiterinnenrolle übernehmen. Das Land ist reich und technologisch dazu in der Lage. Hinzu kommt, dass viele Schweizer*innen seit langem den öV nutzen, die Akzeptanz also im Gegensatz etwa zu Deutschland sehr hoch ist. Aus meiner Sicht ist es primär eine Frage des «Framings», also wie man die Geschichte erzählt und entsprechende Mehrheiten in der Bevölkerung aufbauen kann.

Welche Rolle spielt die Elektromobilität? Könnte sie dem Auto zu einem Comeback verhelfen?
Die E-Mobilität ist aus meiner Sicht gegebenenfalls eine Übergangstechnologie. Aus Sicht der Automobilindustrie wäre ein solches «Comeback» sicher wünschenswert, gesellschaftlich sehe ich diese Entwicklung eher nicht.

Welche Städte sind bei der Umsetzung der autolosen Stadt bereits weit?
Ich finde aktuell die Entwicklung in der Pariser Innenstadt bemerkenswert. Die Stadt ist früher in den stinkenden Autokolonen beinahe erstickt, nun macht die Bürgermeisterin Anne Hidalgo mit dem velofreundlichen Stadtumbau vorwärts.

Sie sind in Aarau aufgewachsen. Was können andere Städte von Aarau lernen?
Wenn ich nur das Städtchen selber betrachte: Aarau mit seinen etwas mehr als 20000 Einwohner*innen hat mit dem Umbau des Aargauer Kunsthauses vor Jahren einen wichtigen Entscheid für inspirierende Architektur und für die Kultur – und in diesem Fall Kunstförderung getroffen. Kultur ist aus meiner Sicht das vielleicht Wertvollste, in das eine Stadt investieren kann, denn es verhindert Schlaf- und andere Trabantenstädte, über die wir in diesem Interview auch schon gesprochen haben.

Fabienne Hoelzel ist Founding Director von «Fabulous Urban» – eine Agentur, die städtebauliche Projekte in weniger entwickelten Regionen der Welt umsetzt. Sie ist etwa im nigerianischen Lagos tätig.

Fabienne Hoelzel auf Twitter: Link

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