Neue Depots, Unterführungen und Ausbau-Stopp wegen Tempo 30? Das ist dran an den Prognosen von Michael Baumer

Gefährdet Tempo 30 den Zürcher ÖV? Bild: Ardian Lumi / Unsplash

In einem Podcast warnt der Zürcher Stadtrat Michael Baumer (FDP) eindringlich vor den Folgen von Tempo 30 für die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ), für die er verantwortlich ist. Was ist da dran? Eine Nachfrage zeigt: Eher wenig. Die Hintergründe zu einer Episode des Stadtzürcher Wahlkampfs.

von Stefan Ehrbar
1. Februar 2022

Am 13. Februar wählt die Stadt Zürich ein neues Parlament und eine neue Regierung. Zur Wiederwahl stellt sich auch Stadtrat Michael Baumer (FDP), Vorsteher des Departements der Industriellen Betriebe und damit Verantwortlicher für das Wasser, den Strom und den ÖV in der Stadt Zürich.

Für Baumer wird der Urnengang kein Spaziergang. Eine Umfrage der Tamedia-Zeitungen zeigt, dass sein Stadtratssitz zur Zitterpartie verkommt. «Stadtrat Baumer vermochte in seiner ersten Legislatur kaum Sichtbarkeit zu erlangen», wird Politgeograph Michael Hermann zitiert. 

Um eben diese Sichtbarkeit zu erlangen, setzt Baumer auf ein vergleichsweise neues und innovatives Mittel: einen eigenen Podcast. In neun Folgen äussert sich Baumer zu seinen Kernthemen und seiner Weltanschauung.

In der Ende Oktober veröffentlichten, aber bisher unbeachteten Episode äussert sich Baumer zu Tempo 30 und die Folgen einer flächendeckenden Einführung für die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ). Und die haben es, wenn man dem Departementsvorsteher glauben darf, in sich.

Wenn Tempo 30 flächendeckend eingeführt wird, braucht es mehr Trams und Busse, um das selbe Angebot aufrechtzuerhalten. Schliesslich brauchen diese für einen Umlauf länger. Mobimag berichtete über zu erwartende Zeitverluste in der Stadt Zürich.

Der Mehrbedarf hat laut Baumer aber noch weitere Folgen. Er sagt:

  • «Man muss diese Trams dann auch irgendwo abstellen. Das heisst, man müsste vermutlich noch ein Depot für Busse bauen und ein Depot für Trams.»

Zwei neue Depots in der Stadt Zürich nur wegen Tempo 30 – das tönt nach hohen Mehrkosten und mühsamer Suche, schliesslich sind geeignete Flächen dünn gesät.

Nachfrage bei den VBZ: Wo sollen diese Depots zu liegen kommen?

Sprecher Tobias Wälti sagt: Für Busse brauche es zunächst kein weiteres Depot. In der Busgarage Hardau seien gerade eben zusätzliche Abstellmöglichkeiten gebaut worden. «Für die Abstellung von zusätzlichen Bussen gibt es derzeit noch keine konkreten Planungen.»

Was die Trams betreffe, werde derzeit das Tramdepot Hard erneuert und in den nächsten Jahren würden zusätzliche Abstellmöglichkeiten auf dem Areal der VBZ-Zentralwerkstätte in Altstetten geschaffen. «An der Aargauerstrasse besteht ein Richtplaneintrag für ein zukünftiges Tramdepot, welches in Abhängigkeit zu der tatsächlichen Flottenentwicklung zu Beginn des nächsten Jahrzehnts in Betrieb gehen soll», so Wälti. «Langfristig soll im Raum Zürich Nord der Standort für ein weiteres Depotareal raumplanerisch gesichert werden.»

Alleine mit Tempo 30 sei das aber nicht begründbar. «Der Bedarf nach Trams und Bussen setzt sich aus verschiedenen Eingangsgrössen zusammen. Dazu zählen neben eigentlichen Angebotsveränderungen wie etwa das zu bauende Tram Affoltern ebenfalls der Mehr- oder Minderbedarf an Kursfahrzeugen aufgrund von veränderten Fahrzeiten etwa infolge veränderter Temporegimes.»

Fazit: Ein neues Bus-Depot wegen Tempo 30 ist nicht in Planung – und Trams brauchen zwar weitere Flächen, aber ebenfalls nicht in direktem Zusammenhang mit Tempo 30. Doch während Depots die Nutzerinnen und Nutzer im Alltag kaum beschäftigen, ist das beim Angebot anders. Und auch hier droht wegen Tempo 30 Ungemach. So sagt Baumer:

  • «Das sind 20 Millionen Franken, die fehlen für Angebotsausbauten wie neue Buslinien oder dass man ein Tram länger fahren lässt am Abend.»

Sind Angebotsausbauten oder Betriebszeitenverlängerungen in Gefahr, wenn Tempo 30 eingeführt wird?

VBZ-Sprecher Wälti betont, dass die Aussage gemacht wurde, bevor der Stadtrat kommunizierte, wie er in Sachen Tempo 30 weiterfahren will. Diese Pläne hat er Anfang Dezember kommuniziert (Mobimag berichtete). Auf weiteren 150 Kilometer Strassen soll Tempo 30 signalisiert werden. Gleichzeitig sollen unabhängige Bahnkörper geprüft werden, und auf gewissen Strecken, wo diese nicht realisierbar sind, soll Tempo 50 beibehalten werden.

Diese Umsetzungsplanung hat die Mehrkosten, welche die VBZ erwarten, beeinflusst. Statt mit 20 Millionen Franken Mehrkosten jährlich rechnen sie nun noch mit ungefähr 15 Millionen Franken, wie Wälti sagt.

Konkrete Ausbauten oder Betriebszeitenverlängerungen, die wegen Tempo 30 in Gefahr sind, nennt Wälti aber nicht. «Angebotsausbauten bei Tram- und Buslinien werden regulär im Rahmen von Fahrplanverfahren geplant. In diesen, zweijährlich stattfindenden Verfahren werden die Vorhaben durch die regionale Verkehrskonferenz priorisiert und dem ZVV zur Finanzierung vorgelegt», sagt er. «Wenn aufgrund von längeren Umläufen zusätzliche Fahrzeuge notwendig werden, können bei gleichbleibenden Mitteln weniger Ausbauten vorgenommen bzw. gar bestehende Angebote reduziert werden – wie es zuletzt beispielsweise bei der Quartierbuslinie 38 diskutiert wurde» (Mobimag berichtete).

Fazit: Eine Gefahr für konkrete Ausbauten stellt Tempo 30 nicht dar, und es gibt auch keine konkreten Projekte, die deswegen nicht mehr finanziert werden. Die Gefahr, dass dies geschieht, ist real, hängt aber hauptsächlich von der Haltung des ZVV ab.

Wegen Tempo 30 könnte die Fahrt in Zürcher Trams und Bussen auch dunkler werden, glaubt man Baumers Aussagen im Podcast. Er sagt:

  • «Wir werden an mehreren Orten prüfen müssen, auch unterirdische Verbindungen, Tramtunnels oder zumindest Unterführungen zu bauen, um unseren Kunden eine gewisse Geschwindigkeit zu bieten.»

Was hat es damit auf sich? Die Nachfrage bei der VBZ-Medienstelle zeigt: Baumer bezieht sich auf das Zukunftsbild 2050, welches die VBZ letztes Jahr vorstellten. Ein ÖV-Ringsystem mit Tunnels etwa unter dem Hönggerberg soll künftig für eine bessere Vernetzung insbesondere der äusseren Stadtquartiere sorgen (Mobimag berichtete).

«Einzelne Abschnitte davon können aus topografischen oder siedlungsbezogenen Gründen unterirdisch trassiert werden, etwa unter dem Hönggerberg oder zwischen Wiedikon und Enge. Die Prüfung von unterirdischen Abschnitten in Bezug auf Machbarkeit, Kosten und Nutzen wird derzeit im Rahmen der Netzentwicklungsstrategie 2040 vorgenommen – konkrete Resultate werden auf Ende Jahr erwartet», sagt VBZ-Sprecher Wälti.

Fazit: Mit Tempo 30 hat die Vision für den ÖV in der Stadt Zürich in 30 Jahren maximal indirekt zu tun. Neue Unterführungen, damit das Tram schneller fährt? Das ist in absehbarer Zeit nicht geplant.

Wie kommt es zu Baumers Aussagen, die nur teilweise zutreffen? Gut möglich ist, dass Baumer bei seinen Aussagen eine Extremvariante der Einführung von Tempo 30 im Hinterkopf hatte, die damals noch nicht ausgeschlossen werden konnte. Allerdings scheint etwas unrealistisch, dass der Stadtrat einen guten Monat vor der Kommunikation eines solch wegweisenden Entscheids noch nicht über die grobe Stossrichtung im Klaren war.

Realistischer dürfte die einfache Antwort sein: Es ist Wahlkampf – und «Tempo 30 vs ÖV» ist ein beliebtes Narrativ. Es ist wichtig, die negativen Aspekte von Tempo 30 und allfällige negativen Folgen auf den ÖV zu thematisieren. Mobimag hat das verschiedentlich gemacht. Es zeigt sich aber auch: In Sachen Tempo 30 wird die Suppe hierzulande meist weniger heiss gegessen, als sie gekocht wurde. Das gilt für die Umsetzung genauso wie für ihre Folgen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Diesen Artikel kommentieren